Wege, die man nicht vergißt. Dietmar Grieser
ihm gegründeten Wochenschrift »Er und Sie«, die ihren Sitz Lange Gasse 5–7 hat, wird er sogar noch näher an die Neustiftgasse heranrücken. Ein interessanter Straßenzug ist sie allemal: Hier hat Alexander Girardis skandalumwitterte Gattin, die Schauspielerin Helene Odilon, gewohnt, hier hat Otto Wagner, die Nr. 1 der Wiener Jugendstilarchitektur, eines seiner Häuser errichtet, und hier unterhält seit 1903 die nachmals weltberühmte »Wiener Werkstätte« ihre Ateliers. Übrigens gilt Bettauers Beschreibung der »freudlosen Gasse« mit gewissen Abstrichen noch immer: Gründerzeit und Jugendstil in wirrem Durcheinander. Sogar, was der Autor über den Status der Hausbesitzer von anno dazumal äußert, klingt da und dort bis heute an – etwa, wenn man auf einem der beim Portal angebrachten Klingelbretter die antiquierte Bezeichnung »Hausinhabung« lesen kann.
Es wird Zeit, ein paar Daten zur Biographie des Autors der »Freudlosen Gasse« nachzutragen – um so mehr, als die breite Öffentlichkeit mit dem Namen Hugo Bettauer heute kaum noch etwas anzufangen weiß. Am 18. August 1872 kommt er in Baden bei Wien zur Welt; der Vater stammt aus Lemberg, ist ein wohlhabender Börsenmann, stirbt jung. Der Hauptwohnsitz der Familie ist Wien, hier besucht Hugo das Franz-Joseph-Gymnasium an der Stubenbastei, im dritten und vierten Schuljahr sitzt er in einer Klasse mit dem anderthalb Jahre jüngeren Karl Kraus. Die Gründe dafür, daß er mit Erreichen der Volljährigkeit aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft austritt und sich evangelisch taufen läßt, liegen wie so vieles bei Bettauer im dunkeln. Der Dienst bei den Tiroler Kaiserjägern, zu denen er als Einjährig-Freiwilliger einrückt, ist ihm zu beschwerlich, auch kommt es zu Streitigkeiten mit den Vorgesetzten: Unser »Held« desertiert. Ein Semester Philosophie an der Universität Zürich, Eheschließung mit einer Jugendliebe, Tod der Mutter: Bettauer tritt das väterliche Erbe an. Auf der Fahrt nach Amerika verliert er sein Vermögen an einen Bankrotteur, und da er in den USA nicht so leicht Arbeit findet, kehrt er bald wieder nach Europa zurück, versucht sein Glück in Berlin. Heftige Angriffe gegen die Polizei, deren Chef er Korruption, Protektionismus und Unfähigkeit vorwirft, bringen ihn um seinen Posten als Lokalredakteur der »Berliner Morgenpost«: Wegen »Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit« wird der 28jährige »als lästiger Ausländer aus dem Gebiete des preußischen Staates ausgewiesen«. In München versucht sich Bettauer als Kabarettist, in Hamburg als Herausgeber des gastronomischen Fachblattes »Küche und Keller«.
Nach dem Scheitern seiner Ehe sogleich eine zweite eingehend, nimmt der inzwischen 31jährige neuerlich Anlauf auf die Neue Welt, und diesmal klappt es. Als Reporter der »New Yorker Staatszeitung« entdeckt Hugo Bettauer eine Marktlücke: Er schreibt Fortsetzungsromane für Amerika-Auswanderer aus dem deutschsprachigen Raum. Es ist schon der gleiche Typus zeitkritischer Kolportageliteratur, mit dem er ab 1920, unter Nutzung der aus Anlaß des Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josephs verkündeten Amnestie, nun wieder in Österreich ansässig, auch in der Heimat Erfolg haben wird. Vor 1914 als Wien-Korrespondent des »New Yorker Morgenjournals«, während des Krieges als Salonredakteur der »Neuen Freien Presse« und in den Nachkriegsjahren neuerlich für amerikanische Blätter tätig, macht er sich in der Folgezeit selbständig, schreibt bis zu fünf Romane pro Jahr, darunter »Die freudlose Gasse«, und entfesselt schließlich mit der Gründung und Herausgabe einer »Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik« einen solchen Proteststurm der Biedermänner, daß es seinetwegen zu wüsten Schlägereien im Wiener Gemeinderat, zur Beschlagnahme und Einstellung des Blattes und im September 1924 auch zu einer Anklage wegen Pornographie und Kuppelei kommt. Ausgerechnet sein unerwarteter Freispruch wird Bettauer zum Verhängnis: Die Medienhetze seiner nun erst recht wütenden Gegner aus dem nationalen Lager nimmt bald auch unverblümt antisemitische Züge an, ein arbeitsloser Hitzkopf stürmt das Redaktionsbüro von »Er und Sie« und streckt den »Schandliteraten« und »Kloakendichter« mit fünf Pistolenschüssen nieder, an deren Folgen der 52jährige zwei Wochen darauf stirbt.
Seiner drastischen literarischen Mittel wegen auch von wohlmeinenden Kollegen nie mit Samthandschuhen angefaßt (Anton Kuh wirft ihm »Anti-Courths-Mahler-Gesinnung in der Courths-Mahler-Sprache« vor), ist es kein Geringerer als Robert Musil, der in seinem Nachruf Hugo Bettauer gerecht zu werden versucht; er schreibt:
»Eine Zeit, welche nicht auf das Wort des Schriftstellers hört, sondern auf das Schlagwort, hob ihn in den Mittelpunkt eines Streites, dem er zum Opfer fiel. Impulsiv, empfänglich, hatte er die Gabe, das auszusprechen, was Tausende fühlten. Er sprach es genau in der Weise und mit den Mitteln aus, welche man heute anwenden muß, um zu wirken. Persönlich leitete ihn niemals das Verlangen nach persönlichen Vorteilen, denn dieses hätte der beliebte Schriftsteller viel bequemer befriedigen können, sondern es leitete ihn die ehrliche Überzeugung, zu bessern.«
Eine gute Marke
Die Phorusgasse
Nicht wenige der rund 12 000 Wiener Straßennamen geben dem Lokalchronisten Rätsel auf. Wie ist das, um ein Beispiel herauszugreifen, mit der Phorusgasse im 4. Bezirk, diesem kurzen Straßenstück zwischen Wiedner Hauptstraße und Mittersteig? Wer oder was steckt hinter diesem Namen? Eine Berühmtheit, die in den 140 Jahren seit jener Benennung durch den Wiener Gemeinderat (oder wie immer die dafür zuständige Instanz zur damaligen Zeit hieß) in Vergessenheit geraten ist? In keinem Lexikon wird man sie finden. Andere Spurensucher tippen vielleicht auf einen dunklen Zusammenhang mit einer Meeresgottheit aus der antiken Sagenwelt. Aber mitten im Binnenland der Wienerstadt? Auch der 280 vor Christus errichtete Leuchtturm von Pharos gibt diesbezüglich nichts her. Was also, verdammt noch mal, hat es mit diesem ominösen Phorus auf sich?
Um das Rätsel zu lösen, müssen wir uns in der Wiener Stadtchronik des Jahres 1824 umsehen.
Nicht anders als im übrigen Europa werden auch in Wien zu dieser Zeit Küchenherd und Heizofen noch mit Holz gespeist. Nicht nur in den Hinterhöfen, sondern auch mitten auf der Gasse sieht man die Hausknechte am Werk, die den aus den Wäldern herbeigeschafften Ster Holz mit Handsägen zerteilen und mit der Axt zu ofengerechten Scheiten spalten. Sowohl der damit verbundene Lärm wie der dabei entstehende Abfall wachsen sich zu einer Plage aus, die obendrein den Verkehr behindert.
Wie könnte man ihr beikommen?
Eine Handvoll unternehmungsfreudiger Wiener Geldleute tut sich zusammen und setzt eine Idee in die Tat um, die einer der sechs entwickelt hat: Wie wär’s mit der Gründung eines Betriebes, der dem lästigen Holzspalten in den engen Gassen ein für allemal den Garaus macht? Ferdinand Graf von Pálffy, Leopold Freiherr von Hackelberg-Landau, Anton Offenheimer, ein Mechaniker namens Matthias Reinscher, der Naturforscher Franz Unger und der nunmehr als Hofagent tätige ehemalige Bürgermeister von Czernowitz, Ignaz von Schönfeld, rufen eine Aktiengesellschaft ins Leben, die unter dem Namen »k.k. privilegierte erste Wiener Holzzerkleinerungsanstalt« den Haushalten die betreffende Arbeit abnimmt. Mit dem vereinigten Kapital der sechs Investoren können leistungsstarke, mit Dampfkraft betriebene Schneidemaschinen angeschafft werden, ihr Ausstoß beträgt über 100 Quadratklafter Brennholz pro Tag, mit eigenen Zustellwagen wird den Kunden die Ware ins Haus geliefert.
In voller Aktion: die »k.k. privilegierte erste Wiener Holzzerkleinerungsanstalt«
Sitz des Unternehmens ist jene freie Fläche auf der Wieden, die in etwa dem heute von Phorusgasse, Ziegelofengasse, Leibenfrostgasse und Mittersteig begrenzten Geviert entspricht. Jetzt braucht das »Werkel« nur noch einen Namen, der sich der Klientel einprägt. Die Herren Unternehmer überlegen hin und her, ein Vorschlag folgt auf den anderen – da entdeckt einer der sechs, als er gerade wieder einmal die Liste der Kompagnons durchgeht, daß deren Namen, wenn man die Anfangsbuchstaben in der richtigen Reihenfolge aneinanderfügt, ein höchst klangvolles Wort ergeben: Phorus. P für Pálffy, H für Hackelberg, O für Offenheimer, R für Reinscher, U für Unger, S für Schönfeld – so einfach ist das.
Der neue Markenname wird binnen kurzem zum Begriff – so wie in späterer Zeit Meinl, Piatnik oder Anker. Ja, sogar in die hohe Literatur findet er Eingang: Als 1841, im siebzehnten Jahr des Bestehens der »k.k. privilegierten ersten Wiener Holzzerkleinerungsanstalt Phorus«, Johann Nestroy seine Posse »Die verhängnisvolle Faschingsnacht« zu Papier bringt, läßt