Wege, die man nicht vergißt. Dietmar Grieser
auf einige Dutzend Mietpaläste, die nur für die ganz Reichen in Betracht kamen.«
Vis-à-vis, auf Nr. 56, geht die mit allen Wassern gewaschene Frau Greifer ihrem düsteren Gewerbe nach, führt ihren »Salon«, für dessen Bordellbetrieb sie auch die arglos-ahnungslose Grete Rumfort anheuern will. Es ist »ein kleines, ebenerdiges Haus mit winzigen Fenstern, in die man, wenn sie nicht immer verschlossen wären, bequem von der Straße aus einsteigen könnte«. Hat man den Toreingang passiert, so gelangt man »in einen großen, rechteckigen Hof mit einem alten, nicht mehr in Betrieb befindlichen Ziehbrunnen und einem Kastanienbaum. Links und rechts ist der Hof von Türen und Fenstern flankiert, die in kleine, aber nicht unbehaglich erscheinende Wohnungen führen. Und verläßt man den Hof nach rückwärts durch ein zweites Tor, so kommt man wieder in einen Hof und von diesem in einen dritten. Überall Wohnungen, Werkstätten, Ställe. Feuchte Wäsche zum Trocknen aufgehängt, Geranien und Levkojen in zerbrochenen Töpfen vor den Fenstern, Lärm, Hämmern, Musik aus heiseren Grammophonen, Kinderweinen, Zanken, mitunter ein gellender Aufschrei, das Dröhnen dumpfer Schläge, rauhes Lachen, ein sentimentales Lied mit obszönem Kehrreim.«
Und schließlich die Nr. 58: das Nebenhaus, wo im 3. Stock Grete Rumfort wohnt. Dieses – so auf den ersten Blick zu erkennen – hat dazumal bessere Zeiten gesehen, stammt aus den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts:
»Die Zimmer groß, hoch, die Küchen geräumig, die Kachelöfen breit und behaglich. So dick und massiv waren damals die Mauern, daß diese Häuser die Entwicklung der Gasbeleuchtung nicht hatten mitmachen können, da es kaum möglich gewesen wäre, die Rohre einzuziehen. Erst kurz vor dem Krieg hatte der Hausherr, der einer alten Wiener Familie angehörte und ein wenig Herz für seine Parteien besaß, elektrisches Licht einführen lassen.«
Jede der drei Etagen beherbergt drei Parteien – Wohnzimmer, Schlafkabinett und Küche mit Dienstbotenkammer: »Die Namen auf den Türschildern bewiesen, daß die neue Zeit hier noch nicht ihren Einzug gehalten hatte. Ein Generalmajor a.D., ein Hofrat aus dem Verkehrsministerium, ein pensionierter Sektionsrat, ein Privatgelehrter und ein aktiver Universitätsprofessor – das waren die ersichtlich soliden Bewohner eines Hauses, das bescheidenen Wohlstand auszuatmen schien. Die bittere Armut, die hinter den starken Mauern herrschte, die hoffnungslose Verzweiflung über eine Zeitentwicklung, der man nicht gewachsen war, kannte nur der Eingeweihte, in erster Linie der alte Hausmeister und dessen redselige brave Frau, die beide mit Schrecken miterlebt hatten, wie ihre ›Herrschaften‹ in einem Zeitraum von nicht einmal zehn Jahren in abgrundtiefes Elend geraten waren. Und immer wenn der Altwarenhändler wieder aus irgendeiner Wohnung einen Perserteppich, eine köstliche Biedermeiergarnitur, eine seltsame Standuhr, ein Gemälde oder gar eine Kiste mit Büchern fortschleppte, seufzte der Hausmeister tief auf, stieß den braunen Daumen in den Pfeifenkopf und sagte zu seiner Frau:
›Du, Alte, der Hunger geht um im Haus.‹«
Hier, in einer der Wohnungen des dritten Stocks, vegetieren hinter dem Türschild »Alois von Rumfort, k.k. Regierungsrat«, auf dem das »von« und das »k.k.« durchgestrichen sind, Grete Rumfort und die Ihren: die verwitwete Mutter, die jüngeren Geschwister, der greise Großvater. Im Film, der im Jahr darauf – Premiere: Mai 1925 – der Buchversion folgt, wird diese Grete Rumfort, Prototyp der verfolgten Unschuld, von einer bildschönen Schwedin verkörpert, die mit bürgerlichem Familiennamen Gustafsson heißt und nun unter dem Pseudonym Greta Garbo am Beginn ihrer Weltkarriere steht. Es ist die erste größere Rolle der 21jährigen; der Wiener Regisseur Georg Wilhelm Pabst hat sie in einem schwedischen Stummfilm entdeckt, ist von ihrem ausdrucksvollen Gesicht fasziniert und holt sie zu den Dreharbeiten nach Berlin, wo im momentan leerstehenden Zeppelin-Hangar die Szenerie der »Freudlosen Gasse« nachgebaut wird. Für die weiteren Rollen engagiert Pabst die Schauspieler-Asse Asta Nielsen, Werner Krauß und Valeska Gert. Die Drehbuchfassung des Streifens besorgt der aus Prag stammende Kritiker und Essayist Willy Haas, der sich 35 Jahre später – in seinem Lebensrückblick – genau an das Projekt erinnern wird:
Greta Garbo in der »Freudlosen Gasse« (hinter der sich die Wiener Neustiftgasse verbirgt)
»Ich las das Buch. Es war ein miserabler Kriminalroman, ein Reißer aus der Wiener Inflationszeit. Aber ich wußte sofort, was G. W. Pabst mit seinem untrüglichen Flair fürs Zeitgemäße reizte: Es war das grelle soziale Bild der Inflation, der Bankrott der alteingesessenen patrizischen Beamten- und Akademikerkreise, die Korruption, der moralische Zerfall, wie wir sie auch in Berlin erlebt hatten. Wir einigten uns sofort, daß der Film aufs Soziale abgestellt sein und das Kriminalistische ganz zurücktreten müsse. Fast nur der Titel sollte stehenbleiben, den Pabst für attraktiv hielt.«
Gertrude Pabst, die Gattin des Regisseurs, die ihrem Mann als Assistentin zur Seite steht, lädt die Hauptdarstellerin zum Nachtmahl ein. »So ein Gesicht gibt’s nur alle hundert Jahre!« schwärmt Pabst, der die noch unbekannte Garbo in Berlin vom Zug abholt und seiner Frau vorstellt. Auch diese erliegt der starken Ausstrahlung der jungen Schwedin: »Ich konnte mich nicht sattsehen an ihrer vollkommenen Schönheit, vergaß darüber das Essen aufzutragen – mein Mann gab mir einen Fußtritt unterm Tisch. Dazu ihr reizvolles Deutschschwedisch – in ihren Filmen hat sie ja immer nur englisch gesprochen.«
Um so enttäuschender die Probeaufnahmen: Verzweifelt kehrt G. W. Pabst vom ersten Drehtag heim. »Sie zittert vor Nervosität!« berichtet er seiner Frau. Alle Versuche, der Anfängerin die Aufregung auszureden, sie könne ihre Szenen, so oft sie wolle, wiederholen, niemand werde ihr daraus einen Strick drehen, sind vergeblich – nach Ablauf einer Woche steht fest: Die Aufnahmen sind unbrauchbar, die Rolle muß umbesetzt werden.
»Da kam meinem Mann die rettende Idee – per Zufall. Es ging um eine kleine, aber wichtige Szene: eine Aktentasche, die deutlich sichtbar zu Boden fällt. Der Vorgang kam im Bild nicht kräftig genug zur Geltung, also entschloß man sich, ihn in etwas gedehnterem Tempo zu drehen – mit einem Anflug von Zeitlupe. Und genau dies war die Lösung für Greta Garbos Nervositätsproblem: Nun, auf den langsamer gedrehten Bildern, wirkte sie auf einmal völlig ruhig. Noch Jahre später, als mein Mann einmal in Hollywood zu tun hatte, klagte ihm einer der dortigen Produzenten, wie mühsam es sei, mit der hypernervösen Garbo zu filmen, und mein Mann verriet ihm daraufhin sein Rezept.«
Der Stummfilm »Die freudlose Gasse« wird ein Erfolg, der weit über den Tag hinausreicht: Keine deutsche Produktion hält sich so lange in den französischen Kinos wie »La Rue sans joie«, die Cineasten werden in späteren Jahren das Werk unter die Klassiker des Genres einreihen, die in Wiener, Berliner, Londoner und New Yorker Archiven gehüteten Kopien gelten als Kostbarkeiten, die Stadt München ist stolz darauf, das Original des Drehbuchs zu besitzen.
Doch zurück zu Hugo Bettauer. Daß seine Romane so enorm beim Publikum einschlagen, hat nicht nur mit seinem feinen Gespür für Stoffe zu tun, die den Leuten unter die Haut gehen, sondern auch mit seiner Manier, die Dinge klar beim Namen zu nennen, und das gilt nicht zuletzt für die von ihm verwendeten Schauplätze. Ob es der Hohe Markt oder die Gumpendorferstraße, der Arenbergring oder die Goldschmiedgasse, die Pötzleinsdorfer Herrschaftsvilla oder der Türkenschanzpark, das Hotel Bristol oder das Restaurant Eisvogel, Burgtheater oder Konzerthaus, der Trabrennplatz Krieau, das Landesgericht oder die Bellaria sind, die er an passender Stelle in die Romanhandlung der »Freudlosen Gasse« einfügt: Das Wiener Publikum, mit all den Örtlichkeiten vertraut, fühlt sich auf diese Weise ins Geschehen einbezogen, kann sich gleich viel leichter mit den Figuren identifizieren. Hinzu kommt, daß Bettauer auch, was den die Handlung beherrschenden Kriminalfall betrifft, auf ein tatsächliches Geschehnis zurückgreift, das kurz zuvor in der Wiener Presse Schlagzeilen gemacht hat. Eine der beteiligten Personen, Frau eines Bankdirektors, unternimmt sogar gerichtliche Schritte gegen die Verbreitung des Buches, ohne allerdings mit ihrem Begehren nach einstweiliger Verfügung durchzudringen.
Nur bei der Benennung des Hauptschauplatzes entscheidet sich der Autor für Verschleierung: Aus der Neustiftgasse macht er eine Melchiorgasse – wohl, um deren Ambiente zu neutralisieren, ins Allgemeine zu erheben. Daß seine Wahl auf ein Modell im 7. Wiener Gemeindebezirk fällt, dürfte damit zusammenhängen, daß er sich hier besonders gut auskennt: