Das vernetzte Kaiserreich. Jens Jäger
das zuvor zum Königreich Dänemark bzw. später Schweden gehört hatte) sind für die gesamteuropäische Balance der Mächte wenig relevant. Politische Umwälzungen erfolgten in unmittelbarer Nachbarschaft zu Deutschland nicht. Die Region blieb recht stabil – eine Ausnahme war Russland, aber auch dort kam es erst im Ersten Weltkrieg zur entscheidenden Umwälzung. Das Osmanische Reich war 1871 noch recht präsent auf dem europäischen Kontinent gewesen, doch 1913 sah das schon wesentlich anders aus: Lediglich ein kleiner Rest am Bosporus war noch erhalten geblieben, nachdem u. a. Serbien, Griechenland, Rumänien, Bulgarien und Montenegro von den Osmanen unabhängig geworden waren. Der Südosten Europas war also stark in Bewegung während der gesamten Existenz des Kaiserreichs. Das wirkte sich stark auf die Außenpolitik aus, denn mit Österreich-Ungarn und Russland waren zwei der wichtigsten Nachbarstaaten des Kaiserreichs unmittelbar in der Region engagiert und in einen dauerhaften Konflikt verstrickt. Im Westen hingegen bildete Elsass-Lothringen den neuralgischen Punkt, weil dessen Annexion durch das Kaiserreich in Berlin wie Paris – wohl auch von vornherein – als dauernder potentieller Kriegsanlass gesehen wurde.
Aus dieser Grundkonstellation lassen sich einige Folgerungen ableiten: Zunächst ist die Offenheit des deutschen Staatsgebiets nach allen Himmelsrichtungen zu betonen, die von vornherein einen Austausch von Menschen, Gütern und Ideen begünstigte. Aber unter Umständen rief das auch Gefühle von Bedrohung und Verletzbarkeit hervor. Ostsee und Nordsee waren wichtige Verkehrsräume; gerade die Nordsee war das Tor nach Übersee (schon vor den kolonialen Bestrebungen des Reichs). Die geopolitische Lage legte gute nachbarschaftliche Beziehungen eigentlich nahe, zumal das Kaiserreich zu einer immer wichtigeren Exportnation wurde. Relativ entspannt war sein Verhältnis zu den kleineren Nachbarn, aber auch zu Österreich-Ungarn.
Problematischer entwickelten sich seine Beziehungen zum Zarenreich und zu Großbritannien, die in Deutschland als grundsätzliche Konkurrenten wahrgenommen wurden; dauerhaft konfliktträchtig war das Verhältnis zu Frankreich oder besser: zur französischen Krone, schon seit dem 17. Jahrhundert. In Erinnerung war noch die Rheinkrise von 1840, bei der französische Forderungen nach einer deutsch-französischen Grenze entlang des Stroms zu einer großen politischen Krise geführt hatten. Die populären Kompositionen »Die Wacht am Rhein«10 und das »Lied der Deutschen«11, die aus patriotisch-nationalbewegten Motiven entstanden waren, blieben auch im Kaiserreich oft gesungene Lieder. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 und die anschließende deutsche Annexion Elsass-Lothringens verschärften diesen Konflikt nun wieder. Aber ungeachtet der politischen Spannungen blieben die großen Nachbarn die wichtigsten Handelspartner, und besonders Richtung Westen verflochten sich Transportwesen und Kommunikationsnetz über die Staatsgrenzen hinweg.
Ein Kaiser, viele Landesherren: Die politische Ordnung des Deutschen Reichs
Moderne Staaten definieren einen Binnenraum, der politisch und rechtlich klar »innen« von »außen« trennt. Laut der Reichsverfassung von 1871 bestand das Reichsgebiet aus den folgenden Staaten: Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg.12 Das waren insgesamt 25 Bundesstaaten. Elsass-Lothringen wurde erst 1911 zum 26. Bundesstaat. Vorher hatte es den rechtlichen Status eines »Reichslandes«, war also unmittelbar den obersten Reichsbehörden unterstellt mit dem Kaiser als Landesherrn.
Diese Bundesstaaten waren von extrem unterschiedlicher Größe und entsprechend im politischen System unterschiedlich gewichtet. Preußen war mit 348 000 Quadratkilometern Fläche (64 Prozent) und 24,7 Millionen (60 Prozent) Einwohnern 1871 bei weitem der größte der Bundesstaaten. Auf Platz zwei folgte mit großem Abstand Bayern mit 75 000 Quadratkilometern (14 Prozent) und 4,9 Millionen (12 Prozent) Einwohnern. Alle anderen Länder waren noch kleiner. Das Kaiserreich war also immer – an den Grundverhältnissen änderte sich bis 1918 nichts – zu etwa zwei Dritteln preußisch.
Allerdings waren auch die größeren Bundesstaaten keine monolithischen Blöcke. Preußen bestand aus 13, ab 1881 mit Herauslösung Berlins aus Brandenburg, dann 14 Provinzen (diese wiederum waren unterteilt in 36 Regierungsbezirke). Territorial untergliedert waren daneben noch Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen und Elsass-Lothringen. Diese politischen Zwischeneinheiten besaßen unterschiedlich ausgeprägte Zuständigkeiten und Grade an Autonomie. Das soll nochmals unterstreichen, dass das föderale Prinzip nicht allein das Kaiserreich insgesamt strukturierte, sondern auch dessen Glieder.
Diese geographische, ökonomische oder demographische Bedeutung spiegelte der Bundesrat, an sich das wichtigste Organ der Verfassung, allerdings nicht wider. Der Bundesrat war die erste Kammer des Parlaments. Er wurde nicht von Staatsbürgern gewählt, sondern setzte sich aus Regierungsvertretern der Bundesstaaten zusammen. Im Bundesrat waren 58 Delegierte vertreten, von denen lediglich 17 (30 Prozent) auf Preußen entfielen. Das entsprang dem Kompromiss, aus dem die Reichsgründung erfolgt war, und politischer Rücksichtnahme auf die vormals unabhängig regierten Bundesmitglieder, die sich an der Zeit des Deutschen Bundes 1815–66 orientierte. Gewissermaßen wurde damit der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses Rechnung getragen. Da Abstimmungen im Bundesrat mit einfacher Mehrheit stattfanden, suggerierte das, die anderen Bundesstaaten könnten Preußen leicht in Schach halten. Aber Art. 78 der Verfassung legte fest, dass konstitutionsändernde Gesetze vom Bundesrat mit 14 Stimmen abgelehnt werden konnten (d. h., lediglich Preußen konnte diese im Alleingang ablehnen). Zudem wurde der größte Bundesstaat noch auf verschiedentlich andere Art privilegiert, so dass er faktisch doch den Bundesrat kontrollierte. Ausnahmen waren Angelegenheiten, die verfassungsmäßig nicht alle angingen. Dabei durften nur jene abstimmen, die direkt betroffen waren.
Die politische Ordnung des Reichs verknüpfte unterschiedliche Traditionen. Die teils altertümliche patrizische Ordnung der Hansestädte und die leidlich erstarrte preußische, die konservative sächsische sowie die liberal geprägte südwestdeutsche mussten miteinander in Einklang gebracht werden. Die Ordnung, die 1871 ins Leben gerufen wurde, war aus Gewalt (und Siegeseuphorie) entsprungen und übernahm Bausteine aus der politischen Struktur des Teilstaates, der auch die Hauptlast des Deutsch-Französischen Kriegs getragen hatte. Mit anderen Worten: Preußen. Grundlage des neuen Staatswesens bildete indes nicht die preußische Verfassung, sondern die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867.
Es war eine föderale, konstitutionelle Monarchie, die in allgemeinen Prinzipien »westlicher« politischer wie staatsphilosophischer Art wurzelte. Männerwahlrecht, Gewaltenteilung, Zwei-Kammern-System, Parlamentarismus usw. waren Standards fast aller sich modernisierenden Territorialstaaten jener Zeit. Das entsprach auch der politischen Ordnung vieler Nachbarstaaten Deutschlands, freilich mit unterschiedlich gewichteten Kompetenzen der Verfassungsorgane und Partizipationsmöglichkeiten der Staatsbürger.13 Als wahlberechtigten »Staatsbürger« stellte man sich stets einen erwachsenen Mann vor, der zumeist auch über ausreichend Besitz und/oder Einkommen verfügte. Innerhalb Europas erlangten Frauen überhaupt nur in Finnland (1906) und in Norwegen (1913) vor dem Ersten Weltkrieg das Wahlrecht. Und das finnische war letztlich nur ein regionales Frauenwahlrecht – es bezog sich lediglich auf diesen autonomen Teil des Zarenreichs.
Was für ein Staat wurde nun durch die Verfassung von 1871 geschaffen? Nach Hans-Peter Ullmann war das Kaiserreich ein Verfassungsstaat, ein Rechts- und ein Verwaltungsstaat, schließlich auch ein Militärstaat und in Ansätzen ein Parteienstaat – darin glich es fast allen europäischen wie nord- und südamerikanischen Staaten. Ihm fehlte aber ein mächtiges Parlament, das die Regierung wählte oder abwählte (Parteien konnten daher Maximalforderungen stellen – da sie niemals in Regierungsverantwortung kamen, wurden sie nicht daran gemessen). Die Justiz war ein wichtiges Element des Staates – das öffentliche wie private Leben war verbindlich reglementiert, Rechtsmittel konnten eingelegt werden, der Instanzenzug war definiert und funktionstüchtig. Die Gesetzgebung lag in Händen zweier Kammern, Parlament und Bundesrat. Das Parlament hatte zwar (wenngleich begrenzt) Budgetrecht, kontrollierte die Regierung aber nicht. Dennoch waren das durchaus Voraussetzungen für eine demokratische Struktur. Vieles hing von der tatsächlichen Praxis ab.
Das Regieren im Kaiserreich war im Wesentlichen von vier Elementen bestimmt: Kaiser,