Das vernetzte Kaiserreich. Jens Jäger

Das vernetzte Kaiserreich - Jens Jäger


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1887 Tagelöhner mehrere Kilogramm getrocknete Erbsen, wenn sie konservativ wählten; im Kölner Vorort Rodenkirchen durften sich diejenigen Wähler, die den ›richtigen‹ Wahlzettel (in diesem Fall einer liberalen Partei) genommen hatten, am Ausgang des Wahllokals eine Wurst abholen.18

      Die gleichsam öffentliche, aber als geheim bezeichnete Stimmabgabe kennzeichnete besonders kommunale Wahlen, so dass die nicht Wahlberechtigten durch öffentlichen Druck die Wahlentscheidungen der Wähler zu beeinflussen suchen konnten. Aber auch die offiziell geheimen Wahlen zum Reichstag erfüllten das Versprechen nicht unbedingt, da es keine Wahlkabinen gab und die Stimmzettel ja schon deutlich machten, welcher Kandidat damit gewählt wurde. Zudem warfen nicht die Wähler die Zettel in die Urne, sondern der Wahlvorstand.

      Wie man es dreht und wendet – Reichstagswahlen waren zwar im Kaiserreich im Vergleich zu den Wahlen in den Bundesstaaten demokratischer, aber alles andere als tatsächlich repräsentativ im heutigen Sinne. Bismarcks Kalkül ging im Übrigen nicht auf: Die erhoffte konservative Dauermehrheit wurde nicht erreicht, vielmehr konnten 1890 die Sozialdemokraten relativ bereits die meisten Stimmen erlangen, erhielten aber aufgrund der Wahlkreiseinteilung im Verhältnis viel weniger Abgeordnetensitze. Erst 1912 stellten sie neben der Stimmenmehrheit auch die relative Mehrheit im Reichstag.

      Fehlt als vierte Größe noch der Reichskanzler. Ihm kam eine koordinierende, ausgleichende und leitende Schlüsselstellung zu. Er war der einzige Minister und lediglich dem Kaiser verantwortlich – darin lag seine außergewöhnliche Stärke und gleichzeitig seine Schwäche, da der Kaiser ihn berufen und entlassen durfte. Allerdings konnte der Kaiser nichts ohne den Kanzler verfügen, denn Letzterer musste Regierungsakte gegenzeichnen (Art. 17).

      Zudem war der Reichskanzler immer auch Außenminister, Vorsitzender des Bundesrates und üblicherweise preußischer Ministerpräsident (nur von Caprivi verzichtete 1892–94 auf das Amt). Als preußischer Ministerpräsident dominierte er auf vielfältige Weise den Bundesrat, was ihm eine wichtige Stellung garantierte.

      Das Reichskanzleramt war neben dem Auswärtigen Amt die erste Reichsbehörde (1871), die zunächst die gesamte Reichsverwaltung übernahm. Aufgrund der wachsenden Zahl der Aufgaben wurden aber alsbald einzelne Ämter ausgegliedert: Das Reichseisenbahnamt entstand schon 1873, das Reichspostamt und das Reichsamt für Elsass-Lothringen folgten 1876, dann kamen 1877 Reichsjustizamt und 1879 das Reichsschatzamt hinzu sowie 1879 das Reichsamt des Inneren – gewissermaßen aus den Resten des Reichskanzleramts. An sich ist das nicht weiter bemerkenswert, es belegt aber die wachsende Unabhängigkeit des Reichs von den preußischen Behörden, wenngleich die Institutionen eng verbunden blieben. Nur zwei weitere Ämter wurden noch gegründet: 1889 das Reichsmarineamt und 1907 das Reichskolonialamt, das aus der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts hervorging.

      Erwähnenswert ist noch, dass es kein Militäramt oder Kriegsministerium gab, stattdessen übernahm das preußische Kriegsministerium diese Aufgaben. Die Armee hing ganz vom Kaiser ab, auch wenn sie föderalistisch organisiert war und die sächsischen, bayerischen und württembergischen Kontingente eine Sonderbindung an die dortigen Monarchien hatten. Auch die Personalhoheit lag bis zu einem bestimmten Grad noch bei den drei Königen. Aber in allen anderen Belangen entsprachen die Kontingente den preußischen. Auch stand das Militär außerhalb der parlamentarischen Kontrolle – abgesehen von Budgetentscheidungen –; formal war es ausschließlich der Kommandogewalt des Kaisers unterstellt. Lediglich in Bayern lag der Oberbefehl erst im Kriegsfall beim Kaiser. Das bedeutet keineswegs, dass das Deutsche Kaiserreich eine Art Militärdiktatur war, wenngleich die Armee- und Marineführung großen Einfluss auf die Politik hatten.

      Es wurde jedoch nicht alles von Berlin aus geleitet. Die Bundesstaaten waren teilsouverän, sie besaßen eigene Regierungen und Verfassungen. Auch waren sie die ausführenden Organe jeglicher Bundesgesetze. Die Rahmenvorschriften in Zivil-, Handels-, öffentlichem und Strafrecht usw. erließ allerdings das Reich. In der alleinigen Verantwortung der Bundesstaaten lagen weite Bereiche der inneren Verwaltung sowie die Bildungs-, Religions-, lokale und regionale Infrastrukturpolitik. Ebenso blieb die Finanz- und Steuerverwaltung in den Händen der Bundesstaaten. Die Wahrung von Sicherheit und Ordnung (Polizeiwesen) wurde ebenfalls dort geregelt – oft delegiert an die Kreise und Gemeinden. Die Eigenständigkeit der Bundesstaaten hatte für den Alltag der Menschen eine hohe Bedeutung – beispielsweise unterschieden sich die Möglichkeiten der politischen Partizipation (wie schon am Beispiel des Wahlrechts angedeutet), die Vereins- und Versammlungsrechte wurden von liberal bis restriktiv sehr ungleich gehandhabt, und die Reglementierung des Alltags sah je nach Bundesstaat anders aus.

      Die Organisationsform des Kaiserreichs war in der Praxis weder autokratisch noch eine »Kanzlerdiktatur« noch eine parlamentarische Monarchie. In der Forschung wird von einer Mischform gesprochen. Hans-Ulrich Wehler beschreibt sie als einen Typus, der »monarchisch-autoritäre Züge mit föderalistischen, parlamentarischen und parteienstaatlichen Elementen verband«.19 Aber alle diese Kennzeichnungen müssen qualifiziert werden. Der Monarch war an das System gebunden wie alle anderen auch, selbst wenn er, wie etwa Wilhelm II., am liebsten als absolutistischer Herrscher geschaltet und gewaltet hätte. Er blieb vom Reichskanzler abhängig, aber auch von Parlament und Bundesrat. Selbst der Kaiser stand nicht über dem Gesetz.

      Der Föderalismus wiederum krankte zwar an der preußischen Dominanz – beispielsweise war der preußische König gleichzeitig deutscher Kaiser und der preußische Ministerpräsident meist auch Reichskanzler. Im Bundesrat hatte Preußen – wie schon erwähnt – eine Sperrminorität und Möglichkeiten, dieses Gremium zu beherrschen. Aber Berlin bestimmte dennoch nicht in jeder Hinsicht, was in Dresden, Stuttgart, München oder Hamburg zu geschehen hatte.

      Das Kaiserreich war von politischen Kompromissen geprägt, es enthielt modernisierende Elemente und autoritäre Charakteristika gleichermaßen. Es war stark preußisch bestimmt, und auf Regierungsebene gaben die persönlichen Beziehungen mit dem zentralen Element Reichskanzler-Kaiser die Richtung vor. Diese politische Ordnung begünstigte zwar die alte Machtstruktur, indem sie Bürokratie, Militär und Diplomatie außerhalb der Kontrollbefugnis des Parlaments ansiedelte, verhinderte aber weder den Aufstieg neuer Eliten noch den der Sozialdemokratie.

      Bevölkerungswachstum, Verstädterung und soziale Dynamik

      Mit den Angaben zu den Wahlkreisen sind bereits die Bevölkerung und deren Entwicklung angesprochen, auf die ich nun etwas vertiefter eingehe. Nicht nur aus der Forschungsperspektive, auch für die Zeitgenossen war das ein wichtiges Thema: Kein Lexikon, keine Staatenbeschreibung aus jener Epoche kommt ohne Hinweise auf die Bevölkerungsentwicklung aus.

      Teils wurde die Dynamik der eigenen Gesellschaft zeitgenössisch daran gemessen, teils die relative Schwäche eines anderen Landes damit begründet. Im Kaiserreich nahm man stets mit einer gewissen Befriedigung wahr, dass die französische Bevölkerungszahl mehr oder weniger stagnierte, während die eigene numerische Überlegenheit jährlich wuchs. Um 1870 besaß Frankreich etwa 36 Millionen Einwohner, bei einem Staatsgebiet, das nur unwesentlich kleiner war als das deutsche. Die Wachstumsrate betrug dort im Schnitt 0,16 Prozent jährlich (1860–1910), so dass es 1914 etwa 40 Millionen Einwohner zählte.

      Die Bevölkerung im Kaiserreich dagegen wuchs jedes Jahr um etwa ein Prozent, und so lebten 1914 bereits etwa 65 Millionen Menschen in Deutschland. Im Durchschnitt waren das 1871 etwa 80 bzw. 1913 rund 126 Einwohner je Quadratkilometer – allerdings lebten die Menschen sehr ungleich verteilt. Bei den Flächenstaaten erreichte Mecklenburg-Strelitz 1871 gerade einmal eine Bevölkerungsdichte von knapp 33 Einwohnern je Quadratkilometer, in Sachsen waren es hingegen schon 170. Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatten dieselben Bundesstaaten die rote Laterne bzw. die Spitzenposition inne, dann aber bereits mit 36 bzw. 320 Einwohnern pro Quadratkilometer.20

      Warum wuchs die Bevölkerung im Kaiserreich? Und wie verteilte sich diese Bevölkerung auf die Fläche? Bevölkerungen wachsen dann, wenn es – banal ausgedrückt – einerseits übers Jahr gerechnet mehr Geburten als Sterbefälle gibt und andererseits nicht mehr Personen ein Erfassungsgebiet verlassen als zuwandern. Für den gesamten Zeitraum von 1871 bis 1914 gilt die magere Tatsache eines Nettogewinns, während sich die Bevölkerungsverteilung auf der Fläche massiv räumlich veränderte.

      Schauen wir


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