Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman. Michaela Dornberg
sich an gewissen Plätzen trafen. Oder gab es in Hohenborn eigentlich so etwas wie ein Obdachlosenasyl für junge Menschen?, schoss es ihr durch den Kopf. Das wäre etwas, was sinnvoll wäre, um einen Teil des Geldes anzulegen, dass Frau Dr. Müller erhalten hatte, um Gutes dafür zu tun. Aber das half ihr jetzt nicht weiter.
Wo war Pia?
Alma begann zu laufen, bis ihr bewusst wurde, dass sie herumirrte wie ein aufgescheuchtes Huhn, das dem Fuchs davonlaufen wollte, der in den Hühnerstall eingedrungen war.
Erschöpft ließ sie sich auf einer Bank nieder. Ihre Freude war in sich zusammengefallen wie ein Häufchen Asche, und nun bekam Alma Angst.
Und wenn Pia nun etwas zugestoßen war?
Ein derartiger Gedanke war nicht abwegig. Es waren nicht nur gute Menschen unterwegs, und ein hübsches, junges Ding konnte sehr leicht zum Opfer werden.
Was sollte sie jetzt tun?
Alma, die eigentlich sehr Resolute, fühlte sich ein wenig überfordert. Sollte sie sich im Krankenhaus erkundigen? Sollte sie zur Polizei gehen? Das war wohl kein so guter Gedanke. Auch wenn Pia gerade mal volljährig geworden war, gehörte sie zu einer Personengruppe, die in der Gesellschaft ganz weit unten angesiedelt war, die man am liebsten ignorierte und über sie hinwegsah, um keine Schuldgefühle zu bekommen, weil es einem gut ging oder weil man sich sonst gar verpflichtet fühlen könnte zu helfen.
Alma wurde sehr schnell klar, dass die Polizei sich nun wirklich nicht um einen Verbleib einer Obdachlosen kümmern würde, zumal sie selbst ja über Pia auch nicht gerade viel wusste. Sie wusste, wie sie hieß, hatte nach und nach etwas über diese unglückselige Familienkonstellation erfahren. Doch sie kannte keinen Nachnamen, und sie wusste nicht, woher Pia gekommen war. Stammte sie aus der Gegend hier, hatte der Zufall sie hergespült? War sie mit jemandem hergekommen? Es gab ganz viele Fragen und nicht eine einzige Antwort.
Alma fühlte sich wirklich überfordert, und sie war an ihre Grenzen gekommen, vor allem fühlte sie sich so ohnmächtig, überhaupt nichts tun zu können. Und natürlich kam auch die Enttäuschung hinzu, weil sie sich alles so schön ausgemalt hatte. Sie hatte sogar in ihrer Wohnung eines der Zimmer, das sie vorher nicht genutzt hatte, für Pia hergerichtet, und da hatte sie wirklich an alles gedacht, weil Pia es schön und gemütlich haben sollte. Und nun das …
Alma stand auf und ging zu ihrem Auto zurück, diesmal ganz ohne Eile, sondern sie war enttäuscht, besorgt, ja, vor allem besorgt. Sie stieg ein, überlegte. Was sollte sie jetzt tun? Nach Hause fahren? Anderswo suchen? Doch wo? Sie kannte sich in dieser Szene so überhaupt nicht aus, zumal Pia ja allein gelebt hatte und nicht mit anderen Obdachlosen zusammen.
Alma schreckte zusammen, jemand hupte, weil er ihren Parkplatz haben wollte. Sie startete, dann fuhr sie los, und sie wunderte sich, dass sie aus der engen Parklücke herausgekommen war, ohne ein anderes Fahrzeug zu rammen, so wie sie gerade drauf war. Da konnte man doch ein Ei über sie schlagen.
Pia …
Ihre Gedanken beschäftigten sich nur mit dem Mädchen, und rein mechanisch schlug sie den Weg Richtung Sonnenwinkel ein. Vielleicht war es ja gut, direkt nach Hause zu fahren. Nach Hause …, normalerweise wurde Alma immer ganz warm ums Herz, doch das war jetzt schwer, und sie war sorgenvoll.
*
Eigentlich hätte Roberta bei einer ihrer Patientinnen einen Krankenbesuch machen sollen, bei einer Patientin, die sie mochte. Doch diesmal hatte sie Claire gebeten, das für sie zu übernehmen, und zum Glück gab es da überhaupt keine Probleme. Claire sprang gern ein. Auch wenn sie von den Patienten und Patientinnen immer mehr akzeptiert wurde, hatte sie lange noch nicht den Beliebtheitsgrad von Roberta erreicht. Das musste sie auch nicht, schließlich befanden sie sich nicht in einem Wettkampf, bei dem es darum ging, Siegerin zu werden. Claire war so glücklich, mit Roberta zusammenzuarbeiten, dass sie sich für all das Gute, was ihr widerfuhr, ein wenig erkenntlich zeigen wollte. Und da konnte sie eines auf jeden Fall tun, ihr die Arbeit ein wenig zu erleichtern. Es war unglaublich, was Roberta alles schaffte, was sie auch freiwillig auf sich nahm.
Roberta wartete gespannt auf Alma, die die junge Pia mit ins Doktorhaus bringen wollte. Roberta bereute ihre ganz spontane Entscheidung nicht einen einzigen Augenblick. Sie half, wo sie nur konnte, und in diesem Fall ging es nicht nur um dieses Mädchen, sondern auch um Alma, die jetzt alte Wunden aufarbeiten konnte. Sie hatten nicht mehr darüber gesprochen, doch es gab etwas, was man so leicht nicht heilen konnte, weil die Verletzungen oder der Schmerz zu tief waren. Und wer konnte das besser beurteilen als Roberta? Die sprach auch nicht mehr über den Verlust von Lars, der einfach so verschwunden war. Doch ganz tief in ihr tobte es weiter. Aber sie wollte jetzt nicht an Lars denken. Sie war neugierig auf Pia, und als Roberta hörte, dass aufgeschlossen wurde, rannte sie eilig zur Tür.
Alma kam herein.
»Wo ist Pia?«, erkundigte Roberta sich sofort. Doch als sie Almas betroffenes Gesicht bemerkte, fügte sie leise hinzu: »Wollte sie nicht mitkommen?«
Alma sagte nichts, musste sie auch nicht. Roberta nahm die enttäuscht wirkende Frau in die Arme.
Alma genoss für einen Augenblick die spontane Geste, dann macht sie sich frei, weil sie sich doch nicht einfach von der Frau Doktor umarmen lassen konnte. Wie sah das denn aus? Außerdem ging es doch jetzt nicht um sie, sie war in Ordnung, sie hatte alles, was sie brauchte. Es ging um Pia!
»Sie ist weg«, sagte sie dumpf und machte sich aus der Umarmung frei.
»Wie, weg …«
Dann erzählte Alma ihr alles, nachdem Roberta sie geistesgegenwärtig zu einem Sessel geführt hatte, denn so, wie Alma aussah, konnte sie jeden Augenblick zusammenbrechen.
Alma hatte Tränen in den Augen, als sie Roberta ansah.
»Was soll ich denn jetzt tun? Vielleicht ist sie krank? Vielleicht hat sie …, ist sie …« Sie traute sich nicht, es auszusprechen, doch Roberta beruhigte sie sofort: »Alma, Sie erzählten doch gerade, dass es von Pia keine Spur gibt. Sollte ihr jemand etwas angetan haben, dann glauben Sie doch nicht, dass der alle Spuren beseitigt. Dann hätte er alles liegen lassen. Während Sie uns jetzt einen Kaffee kochen, wenn Sie dazu in der Lage sind, dann rufe ich im Krankenhaus an, und ich werde mich auch bei der Polizei erkundigen. Und um eine Auskunft zu bekommen, werde ich mich an diesen netten Kriminalhauptkommissar Fangmann wenden.«
Alma atmete erleichtert auf. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich so etwas wie ein kleiner Hoffnungsschimmer ab.
»Das würden Sie tun, Frau Doktor?«
Roberta versprach es, und während Alma in die Küche ging, um den Kaffee zu kochen, begann Roberta zu handeln. Die arme Alma, sie konnte sehr gut verstehen, wie enttäuscht die jetzt war. Roberta unterstützte zwar obdachlose Frauen, doch wie die wirklich tickten, das wusste sie nicht, weil sie eben nicht alle über einen Kamm zu scheren waren, sondern weil es die unterschiedlichsten Schicksale gab.
Zuerst rief Roberta in Hohenborn im Krankenhaus an, dort war sie bekannt und wurde sehr geschätzt, und natürlich bekam sie die gewünschten Auskünfte, die man Alma verweigert hätte. Allein schon wegen des Datenschutzes. Es stand sehr schnell fest, dass keine Pia eingeliefert worden war, dass sich die Neuzugänge in den letzten Tagen in beschaulichen Grenzen hielten. Roberta bedankte sich, das war auf jeden Fall erst einmal beruhigend.
Und dass es nicht nur Roberta beruhigte, sondern in erster Linie Alma, das sah man der an, als sie mit den Kaffee ins Zimmer kam, und ihre Chefin ihr alles erzählte, was sie herausgefunden hatte.
»Alma, so, und jetzt machen Sie sich bitte keine unnötige Sorgen. Das Mädchen kann sich nicht in Luft aufgelöst haben, und wenn sie sich noch in Hohenborn aufhält, dann werden wir sie finden, das verspreche ich Ihnen, Alma.«
Wie selbstverständlich hatte Roberta alles zu ihrer eigenen Sache gemacht.
Alma nickte dankbar, doch innerlich war sie noch immer sehr aufgewühlt. Das erkannte man daran, wie sehr ihre Hand zitterte, als sie ihre Tasse zum Mund führen wollte.
Roberta hätte zwar jetzt ganz gern erst einmal in aller