Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman. Michaela Dornberg
Sie die Wartezeiten besser, und Sie müssen nicht mehr mit dem Kopf gegen die Wand laufen. Frau Keppler, Sie sind eine junge, intelligente Frau. Sie können doch nicht Ihr Leben mit Warten auf Ihren Ehemann verbringen? Nun sind Sie mal hier, machen Sie das Beste draus.«
Sie griff in ihre Tasche, holte einen Zettel heraus, schrieb eine Nummer darauf.
»Frau Keppler, ich gebe Ihnen jetzt, was ich nur äußerst selten tue, meine private Telefonnummer. Bitte rufen Sie mich an und erzählen mir, was sich ergeben hat. Ich bin überzeugt davon, dass es klappen wird.«
Astrid zögerte, doch dann griff sie nach dem Zettel, und für Claire bedeutete das, dass sie gewonnen hatte. Es war also doch nicht so verkehrt gewesen, anzuhalten.
Sie erhob sich.
»Und nun will ich Sie nicht länger aufhalten, Frau Keppler, ich wünsche Ihnen Glück, und rufen Sie in dem Laden nicht an, gehen Sie einfach vorbei. Wenn man Sie sieht, wird man leichter eine Entscheidung treffen.«
Astrid bedankte sich, Claire verzichtete darauf, zur Tür begleitet zu werden, sie kannte sich auf. Und jetzt hoffte sie nur, dass, wenn sie jetzt ging, es das letzte Mal sein würde.
Claire ging zu ihrem Auto, stieg ein, warf noch einen kurzen Blick auf das Haus, vor dem der auffallende Flitzer stand. Damit kam ihr Mittelklasseauto längst nicht mit, doch das erweckte keinerlei Neidgefühle in ihr. Sie war mit ihrem Leben nicht nur zufrieden, nein, sie war überglücklich und unendlich dankbar. Und ein Auto? Das war doch nicht mehr als nur ein Fortbewegungsmittel.
Sie blickte auf die Uhr.
Claire war doch länger bei Astrid Keppler geblieben als gedacht, und eigentlich war das ja überhaupt nicht vorgesehen gewesen. Aber es war schon gut, dass sie angehalten hatte, wenn die junge Frau sich aufraffen würde, und das hoffte Claire sehr, könnte sich manches ändern. Und wenn nicht, Zeit ließ sich nicht zurückholen.
Jetzt musste sie halt umdenken, doch sie brauchte sich wirklich keine Gedanken darüber zu machen, wie sie den Rest des Tages verbringen würde. Da gab es einmal das Geld von Gloria Weitz, über dessen Verwendung sie sich noch immer nicht klar war, da gab es immer noch unausgepackte Kisten und Kartons, und außerdem hatte sie Bereitschaftsdienst und konnte jederzeit abgerufen werden. Doch deswegen hatte sie wahrhaftig keinen Leidensdruck. Auch sie war Ärztin aus Leidenschaft, da unterschied sie nichts von Roberta.
*
Rosmarie Rückert wartete auf Inge Auerbach, die zum Frühstück kommen wollte, und Inge würde Brötchen mitbringen.
Rosmarie freute sich, Inge zu sehen, und sie hoffte sehr, die würde sie von ihren Gedanken abbringen, denn das mit dem toten Raben wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Dabei hatte Heinz, als er in ein Notariat fuhr, einen ganz munteren Eindruck gemacht. Vielleicht sorgte sie sich unnötig?
Und sie machte sich auch nicht mehr die Sorgen, ob ihre Entscheidung, in den Sonnenwinkel gezogen zu sein, richtig gewesen war. Klar war sie das.
Goldene Sonnenstrahlen verfingen sich in den kostbaren Möbeln, die hier viel besser zur Geltung kamen als in der alten Villa in Hohenborn. Sie hatten ja nicht viel mitgenommen, doch Rosmarie war froh, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Meta hatte bereits Kaffee gekocht, und sie war jetzt damit beschäftigt, es sich in ihrer eigenen kleinen Wohnung gemütlich zu machen.
Als es klingelte, sprang Rosmarie auf, um Inge zu öffnen. Die brachte nicht nur die versprochenen Brötchen mit, frisch geholt vom Bäcker, sondern auch noch einen wunderschönen Blumenstrauß.
Rosmarie war ganz gerührt. Aber so war Inge.
»Du bringst mir Blumen mit, dabei müsste ich dir einen ganzen Waggon voller Blumen schenken für alles, was du hier gemacht hast. Ohne deine tatkräftige Hilfe, vor allem ohne dein umsichtiges Handeln wären wir längst nicht so weit.«
Es war ungewohnt für Inge, zum Frühstück bei den Rückerts vorbeizugehen, bislang war es immer umgekehrt gewesen, Rosmarie war zu ihnen gekommen. Doch es fühlte sich gut an, und Inge hatte überhaupt nichts dagegen, dass es jetzt mal umgekehrt war. Auf jeden Fall war sie froh, Rosmarie in ihrer Nähe zu haben. Auch wenn es anfänglich nicht vorstellbar gewesen war hatten sie sich angefreundet, nicht nur das, sie konnten offen zueinander sein.
Und nachdem Rosmarie die Blumen versorgt hatte, sie es sich schmecken ließen, platzte sie sofort mit der Geschichte mit dem toten Raben heraus.
»Es macht mir Angst, Inge«, rief sie, »hoffentlich ist das kein schlechtes Omen.«
Was war das denn?
So kannte sie Rosmarie überhaupt nicht. Schwarze Vögel als ein schlechtes Omen zu sehen. Das war Spökenkiekerei, und so etwas gehörte einfach nicht zu Rosmarie, die wusste, wo es längs ging. Vielleicht war ja der ganze Umzug in den Sonnenwinkel zu viel gewesen. Manche jungen Leute hätten es nicht in der kurzen Zeit geschafft. In solchen Situationen konnten die Nerven schon mal blankliegen, und man sah etwas, was es überhaupt nicht gab, was man sonst auch nicht sehen würde.
»Deine Sorgen hätte ich gern«, sagte Inge deswegen auch. »Es fliegen leider öfter Vögel gegen Fensterscheiben und kommen zu Tode, und das ist kein Zeichen, sondern eine bedauerliche Tatsache.«
Was hatte Inge da zuerst gesagt? Es war ein ganz banaler Satz, doch der ließ Rosmarie aufhorchen.
»Stimmt etwas nicht, Inge?«, erkundigte sie sich deswegen auch prompt.
Normalerweise hätte Inge diese Frage sofort beantwortet, zumal sie und Rosmarie ganz offen zueinander waren. Doch das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Es war Inge unangenehm, mit ihren eigenen Problemen anzufangen. Aber sie kannte Rosmarie, die würde nicht aufhören zu fragen.
»Ach, es ist wegen Werner. Ich bin sauer auf ihn.«
»Wieso das denn?«, kam auch die prompte Frage. »Du bist doch mit allem, was Werner tut, einverstanden. Und streiten könnt ihr euch jetzt wohl nicht, es liegen nicht nur Zeitverschiebungen, sondern Kontinente zwischen euch. Entfernungen und Trennungen können in einem solchen Fall ja wohl eher Sehnsüchte erwecken.«
Schön wäre es!
Inge hatte keine andere Wahl. Sie erzählte Rosmarie von dem unsäglichen Telefongespräch mit Werner, das eigentlich nicht viel mehr gewesen war als ein Monolog seinerseits, und das sie wütend beendet hatte.
Eigentlich war das für Rosmarie unvorstellbar. So etwas kam überall vor, doch nicht bei den Auerbachs! Um die hatte Rosmarie so etwas wie eine goldene Schleife gelegt und sie auf ein Podest gestellt, weil sie das Vorzeigepaar schlechthin waren. Gut, in der Vergangenheit war von dem Glorienschein hier und da etwas verblasst. Auch bei den Auerbachs ging es hin und wieder zu wie bei Hempels unterm Sofa, aber dennoch blieb etwas, dem man nacheifern musste.
»Inge, du weißt doch, wie Werner ist. Er liebt es nun mal, im Mittelpunkt zu stehen, und dorthin wird er als international bekannter und geachteter Professor halt immer wieder gestellt. Da verliert man schon mal die Bodenhaftung. Du hast ihm diesen Part überlassen, sonst hätte er überhaupt nicht der werden können, der er ist. Du bist die starke Frau an seiner Seite, und darauf kannst du stolz sein. Du hast dich im Hintergrund gehalten, hast wundervolle Kinder großgezogen, auf die du stolz sein kannst. So etwas wird leider als eine Selbstverständlichkeit hingenommen, dafür bekommt man keinen Applaus. Ich bewundere dich auf jeden Fall sehr dafür. Ich wollte, wir wären uns schon früher begegnet, dann hätte ich dir nachgeeifert und hätte meine Kindererziehung nicht gegen die Wand gefahren und hätte kein Leben geführt, für das ich mich jetzt schäme.«
Rosmarie und ihre Vergangenheit!
Die holte sie immer wieder ein, dabei bestand überhaupt kein Grund dazu. Entscheidend war doch, dass Rosmarie die Kurve bekommen hatte, und das hatte sie wirklich, und dafür war sie zu bewundern. Und das sagte Inge ihr auch, denn Rosmarie hatte einiges vorzuweisen. Sie hatte Schmuck und Outfits verkauft, Heinz bekniet, Geld zu geben, ein großes Fest zur Rettung des Hohenborner Tierheims organisiert und ausgerichtet, über das man heute noch sprach. Sie arbeitete freiwillig in einer Seniorenresidenz.