Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman. Michaela Dornberg
verstand Astrid es nicht, doch sie lächelte zuvorkommend, dann warf sie der Kundin einen abschätzenden Blick zu. Sie hatte zum Glück eine Größe, die man im ›Outfit‹ vorfand. Astrid taten immer die armen Frauen leid, die ein Geschäft betraten, um sich etwas Hübsches zu kaufen und zur Antwort bekamen, dass man in ihrer Größe nichts führte. So etwas war bitter, zumal die Verkäuferinnen sich nicht um einen verbindlichen Ton bemühten, sondern dass sie geradezu entsetzt wirkten. Das hatte Astrid mehr als nur einmal mitbekommen.
Sie schlug der Kundin vor, dass sie sich gemeinsam umsehen sollten, weil einem dann oftmals etwas ins Auge fiel, was man vorher überhaupt nicht auf dem Schirm hatte. Zum Glück ließ sich die Kundin darauf ein. Gemeinsam schlenderten sie durch den Laden, Astrid schwitzte Blut und Wasser, denn sie hatte nicht nur die Elemente im Auge zu behalten, um sich hinterher erinnern zu können, nein, sie musste auch sehen, wie die Kundin auf die verschiedenen Sachen reagierte.
So wie sie bereits gekleidet war, und wohin sie am liebsten schaute, war schnell auszumachen, dass sie Pastelltöne liebte. Auch wenn Astrid keine Fachverkäuferin war, besaß sie schon ein gewisses Gespür für das was ging und was man besser bleiben lassen sollte. Bei der Kundin handelte es sich um eine blasse Blondine mit hellen Augen. Also, wenn sie an deren Stelle wäre, würde sie sich nicht für diese lieblichen Farben entscheiden.
Während die Kundin sich einen blassblauen Pullover anschaute, ließ Astrid ihre Blicke schweifen, und dann entdeckte sie etwas.
Sie konnte total danebenliegen, doch sie entschuldigte sich kurz, ging weg, und wenig später kam sie mit einem grauen Zweiteiler zurück, einem interessant geschnittenen Rock und einer dazu passenden kastigen Jacke, dazu brachte sie ein blassrosa Top und einen kurzärmeligen Pullover aus feinem Merinostrick mit, ebenfalls in einem blassen Rosaton.
Das zeigte sie der Kundin und merkte sofort, dass sie damit bei der Dame keinen Blumentopf gewinnen konnte, mit dem Top und dem Pulli ja, denn die waren in den von ihr beliebten und geliebten Farben gefertigt. Doch das graue Outfit? Das erntete bloß ein Kopfschütteln.
Astrid wunderte sich über sich selbst, ihr Ehrgeiz erwachte, und schließlich hatte sie die Kundin so weit, dass sie die Sachen wenigstens einmal anprobieren wollte. Astrid merkte sehr schnell, dass die höfliche Frau ihr einen Gefallen tun wollte, mehr nicht, und sie hatte nicht viel Hoffnung, als sie die Kundin bat, zunächst den Zweiteiler zusammen mit dem Pullover zu probieren.
Manchmal bekamen die Dinge eine Eigendynamik, auf die man keinen Einfluss hatte. Ihre Kundin kam beinahe gleichzeitig mit einer Frau aus einer Nachbarkabine heraus. Astrid sah das Unbehagen auf dem Gesicht ihrer Kundin, die andere Frau blickte zur Seite, und ihre Stimme überschlug sich beinahe, als sie ganz aufgeregt rief: »Das ist es«, und deutete auf das graue Outfit, »das ist ein Traum, warum haben Sie es mir nicht gezeigt?«
Die Verkäuferin verdrehte die Augen.
»Weil Sie ein Outfit mit einer Hose haben wollten, und da handelt es sich um einen Rock.«
»Es ist schon okay, dann bringen Sie mir bitte jetzt diesen Zweiteiler.«
Die arme Verkäuferin musste mit der Kundin bereits einiges mitgemacht haben, denn sie blickte gen Himmel.
»Das ist leider nicht möglich, denn dabei handelt es sich um ein Einzelstück, und ich kann es auch nicht mehr besorgen, weil es sich dabei um Orderware handelt, die komplett ausgeliefert ist.«
Astrid merkte richtig, wie es in ihrer Kundin arbeitete, und als die Dame aus der Nachbarkabine sich erkundigte: »Nehmen Sie das Outfit? Wenn nicht, dann möchte ich es probieren, so etwas Schönes habe ich schon lange nicht gesehene. Wie schade, dass ich es nicht entdeckt habe. Ich hätte es unbesehen gekauft, und wenn ich da erst reinwachsen müsste.«
Jetzt waren alle Augen auf Astrids Kundin gerichtet.
»Ich nehme alles, auch das Top«, sagte die und verschwand wieder in der Umkleidekabine, um sich umzuziehen. Sie hatte sich nicht einmal im Spiegel betrachtet. Aber sie sah gut aus, sehr gut sogar, und diese hübsche graue Farbe belebte sie, und mit dem Rosa hatte sie ja auch etwas Liebliches.
Unglaublich!
Astrid war sich sicher, dass sie vor der Kundin einen Kniefall hätte machen können, ohne dass die sich für das Outfit entschieden hätte. Die offensichtliche Begehrlichkeit der anderen Frau hatte den Ausschlag gegeben.
Wie auch immer, Astrid war unglaublich stolz, als sie zu dem Counter aus gebürstetem Stahl schritt, um die Teile aufzuschreiben. Es war eine ganz schön hohe Summe, und die Kundin hatte sich nicht einmal nach dem Preis erkundigt. Doch das konnte Astrid verstehen, das tat sie ebenfalls nicht, wenn ihr etwas gefiel.
Die Kundin bezahlte, bedankte sich, und sie erkundigte sich sogar nach Astrids Namen, weil sie sich so gut beraten fühlte. Dann zog sie davon.
Astrid war sich sicher, dass Doreen von Senk sie die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte. Es hätte ja anders kommen können, und die Chefin hätte eine Katastrophe verhindern müssen. So lächelte sie und sagte: »Gut gemacht, Frau Keppler. Wann wollen Sie anfangen?«
Astrid war sprachlos, am liebsten wäre sie Doreen jetzt um den Hals gefallen. Doch das ging nicht, sie besprachen noch, die Zeiten für die ersten Tage. Astrid sollte ihre Papiere mitbringen, damit sie ordnungsgemäß angemeldet werden konnte. Und bei der begannen die Gehirnwindungen zu knacken. Ihre Papiere? Ja, die gab es aus ihren früheren Zeiten, als sie noch gearbeitet hatte. Doch danach hatte sie alles Oskar überlassen. Oh Gott, daran durfte es jetzt nicht scheitern.
»Mein Mann ist geschäftlich unterwegs, und der …«
Doreen von Senk winkte ab.
»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, Frau Keppler, die Unterlagen können Sie nachreichen. Es würde mich freuen, wenn Sie morgen Nachmittag anfangen könnten. Wissen Sie, für die Vormittage findet man leicht jemanden, denn dann sind die Kinder in der Schule oder im Kindergarten, nachmittags ist es schwieriger.« Sie warf Astrid einen Blick zu. »Wir haben überhaupt noch nicht darüber gesprochen. Sie können doch nachmittags, oder?«
Ohne zu zögern sagte Astrid: »Ja.«
Es gab noch einiges zu besprechen, erst als sie draußen war, fragte sie sich, wie sie das bewerkstelligen sollte. Sie hatte eine kleine Tochter. Und auch wenn die derzeit gern mit Frau Wolfram zusammen war, durfte das keine Dauerlösung sein.
Ach was, Astrid wollte sich jetzt darüber den Kopf nicht zerbrechen, sie war überglücklich, schwebte beinahe zu ihrem Auto, und erstaunt registrierte sie, dass ihr ein gut aussehender Mann nicht nur einen anerkennenden Blick zuwarf, sondern auch noch pfiff. Sie war in all den Jahren nur auf Oskar fixiert gewesen, und seit sie im Sonnenwinkel wohnten, fernab von dem gewohnten Leben, hatte sie sich an ihn geklammert wie eine Ertrinkende an einen Strohhalm.
Sie fuhr los. Es war ganz gut, dass Amelie bei Frau Wolfram übernachten würde, dann hatte sie Zeit, ungestört nach ihren Papieren suchen zu können. Gewiss hatte Oskar die in seinem Schreibtisch aufbewahrt, einer Schublade, im Büroschrank. Da machte sie sich keine Sorgen, irgendwo mussten sie sein. Oskar war ein überaus korrekter Mann, der verschluderte nichts.
Seit sie verheiratet war, war das ihre erste eigene Entscheidung, ansonsten hatte sie sich immer auf Oskar verlassen, und der hatte ihr Leben sehr gern in die Hand genommen.
Was er wohl sagen würde?
Diese Frage stellte Astrid sich immer wieder.
Astrid wunderte sich über sich selbst, über die Energie, die sie plötzlich hatte, und dieser Verkauf hatte ihr Selbstwertgefühl ganz schön gestärkt, wenngleich dieser Erfolg nicht ganz ihr Verdienst gewesen war, aber immerhin hatte sie das Outfit herausgesucht.
Am liebsten würde sie jetzt Frau Dr. Müller anrufen und sich bei ihr für den Tipp bedanken. Aber das ging natürlich nicht. Sie hatte die beiden Ärztinnen genug strapaziert. Doch hatte Frau Dr. Müller ihr nicht ausdrücklich ihre Handynummer dagelassen? Vielleicht, um sie zu motivieren … Astrid würde gern anrufen, doch sie traute sich nicht. Erst einmal wollte sie ihren ersten Arbeitstag hinter sich dringen, und dazu brauchte