Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman. Michaela Dornberg

Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman - Michaela Dornberg


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Sie, und auch das ist neu. Ich bin Privatpatientin, und zuerst werden bei mir immer alle Untersuchungen gemacht. Ihr Weg ist der bessere, auf jeden Fall. Und so etwas erweckt Vertrauen, und das muss man zu seinem Arzt haben.«

      Roberta besprach mit der Patientin noch die weiteren Vorgehensweisen, dann verabschiedete sie sich. Und sie hatte keine Zeit, nachzudenken, weder über die neue Patientin noch über Pia. Durch den Zwischenfall hatte es einen Stau gegeben, und nun musste Roberta auch noch Patientinnen und Patienten übernehmen, die eigentlich Claire hätte übernehmen sollen. Aber so war es nun mal, wenn man mit Menschen arbeitete, war kein Tag wie der andere …

      *

      Es war später als sonst, als Roberta und Claire nach der Vormittagssprechstunde gemeinsam in die Privaträume gingen. Zusammen Mittag zu essen war eine schöne Angewohnheit, und Claire war Roberta unendlich dankbar für diese Großzügigkeit.

      Roberta war aufgeregt, doch es war merkwürdig still, als sie nach nebenan kamen, von Alma gab es weit und breit keine Spur, und natürlich auch keine von Pia.

      Sie hätten längst im Doktorhaus sein müssen.

      War da etwas schiefgelaufen?

      Das Essen stand auf dem Herd, Alma hatte eine leckere Gemüsesuppe gekocht, und die wärmte Claire jetzt auf, weil die sich mit Kochen besser auskannte.

      Roberta deckte derweil den Tisch, dann erzählte sie Claire von dem Anruf des Kommissars und Almas Fahrt nach Hohenborn, um Pia zu holen.

      Claire hatte alles hautnah mitbekommen, und so freizügig sie auch war und gern spendete, sie hielt nichts davon, sich jemanden ins Haus zu holen. Da vertrat sie eine andere Meinung, aber das war auch gut so, Menschen waren verschieden.

      »Vielleicht will das Mädchen ja nicht«, bemerkte Claire, als sie wenig später am Tisch saßen und sich die Suppe schmecken ließen, »ich kann mir ganz gut vorstellen, dass jemand, der auf der Straße gelebt hat, Probleme damit hat, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.«

      Claire hatte doch überhaupt keine Ahnung.

      Sie stimmten in vieler Hinsicht überein, doch jetzt musste Roberta ihr widersprechen, und das tat sie ziemlich heftig.

      »Claire, was redest du da? Die meisten der Obdachlosen leben nicht freiwillig auf der Straße, und jetzt fang bitte nicht wieder damit an, dass es in unserer Gesellschaft keiner tun muss, weil der Staat für jeden sorgt. Das lässt sich nicht so pauschal abtun, und ich will jetzt deswegen mit dir auch keine Grundsatzdiskussion beginnen. Wir alle müssen uns die Frage stellen, warum in unserem reichen Land Menschen ausgegrenzt sind, statt eine Pauschalverurteilung vorzunehmen, verächtlich über Penner sprechen. Es sind alles Menschen, die ganz unterschiedliche Schicksale haben, jeder hat es verdient, eine hilfreiche Hand geboten zu bekommen. Und ich wünsche mir wirklich von ganzem Herzen, Alma wird das Mädchen Pia mitbringen.«

      Warum ereiferte Roberta sich jetzt so sehr?

      »Roberta, ich möchte nicht, dass du mich falsch verstehst. Ich verurteile keine Obdachlosen, aber du wirst doch wohl zugeben, dass es unter denen welche gibt, denen einfach nicht zu helfen ist, und wenn …«

      Sie brach ihren Satz ab, weil von der Haustür Geräusche gekommen waren.

      Roberta überlegte, ob sie jetzt aufspringen und zur Tür eilen sollte. Sie ließ es bleiben. Erst einmal musste sie sehen, ob Alma allein kam und wenn mit Pia, dann durfte das traumatisierte Mädchen nicht überfordert werden.

      Es war still im Raum, Roberta, auch Claire warteten gespannt, und dann kam Alma herein, und an der Hand hatte sie ein junges Ding, das verunsichert und verschreckt zugleich wirkte.

      Das also war Pia!

      »Ich habe Pia mitgebracht«, sagte Alma mit vor Freude zitternder Stimme, legte beschützend einen Arm auf die schmale Schulter des Mädchens.

      Roberta stand auf.

      »Hallo, Pia, schön, dass du da bist. Ich bin Roberta … Roberta Steinfeld, und das ist«, sie deutete auf Claire, die ebenfalls aufgestanden war, »Frau Dr. Claire Müller.«

      Roberta reichte ihr die Hand, und sie wunderte sich, denn Pia hatte einen erstaunlich kraftvollen Händedruck, der ziemlich im Gegensatz zu dem verunsicherten Ding stand.

      Auch Claire sagte: »Ich freue mich.«

      Dann war sie froh, abgerufen zu werden, und das war auch ganz gut so, denn das, was gerade geschah, war das Ding von Alma, dem Mädchen und Roberta. Die würden schließlich auch, wenn es denn klappte, gemeinsam in einem Haus wohnen. Aber eines erstaunte Claire schon ein wenig. Diese Pia machte einen guten Eindruck und sah keinesfalls wie eine Obdachlose aus, richtiger, wie man sich eine Obdachlose vorstellte.

      Alma, Pia und Roberta waren allein, schwiegen.

      Es war eine Situation, mit der sie alle nicht richtig umgehen konnten, weil so etwas ja auch nicht alltäglich war.

      Und für Alma und Roberta kam es in erster Linie darauf an, das Mädchen nicht zu verschrecken.

      Pia musste langsam ankommen, man durfte sie nicht überfordern.

      Alma kannte sie ein wenig, und zu Alma hatte sie auch Vertrauen genug, um ihr gefolgt zu sein.

      »Pia, ich weiß nicht, ob Alma dir erzählt hat, dass ich als Ärztin genau nebenan arbeite, dort meine Praxis habe. Und in die muss ich jetzt wieder.«

      Das stimmte nicht, Roberta hätte jetzt gern noch ganz gemütlich einen Kaffee getrunken. Das wäre jetzt nicht richtig.

      »Alma wird sich um dich kümmern, und du musst unbedingt die leckere Suppe probieren, die Alma gekocht hat. Und die kann dir auch alles zeigen …, ich möchte es noch einmal betonen, bei uns bist du herzlich willkommen.«

      Alma war ganz gerührt, warf ihrer verehrten Chefin einen dankbaren Blick zu, und Pia hatte Tränen in den Augen.

      Auch Gefühle, wohlgemeinte Worte konnten einen überfordern, genauso wie Prügel und Hass.

      Roberta trat spontan auf das Mädchen zu, das noch immer ganz verloren mit hängenden Schultern dastand und strich Pia sanft übers Haar. Dann ging sie.

      Sie wusste, dass Alma es schon meistern würde, sie wäre jetzt das dritte Rad am Wagen, und überfordern durfte man Pia wirklich nicht. Niemand wusste, wie sie reagieren würde, und für jemanden, der überfordert war, konnte Flucht so etwas wie ein Ausweg sein, obwohl das natürlich nicht stimmte. Aber das wusste man immer erst hinterher, und oftmals erst, wenn es zu spät war.

      Roberta empfand es jetzt aber selbst beinahe als so etwas wie eine Flucht, als sie in die Praxis stürmte. Und dort hielt sie inne, als sie Geräusche vernahm.

      Sie dachte nicht an einen Einbrecher, doch ein wenig verunsichert war sie schon, sie betrat den Raum, in dem die Patienten sich anmeldete und wunderte sich sehr, dort Leni Wendler zu entdecken, die Mitarbeiterin, die seit einiger Zeit mit an Bord war, mit der Roberta allerdings nicht viel zu tun hatte, weil Leni in erster Linie Claire zuarbeitete. Aber auf jeden Fall hatten sie mit Leni Wendler einen guten Griff getan, sie war ein sehr angenehmer Mensch, sie war zuvorkommend und energisch zugleich, und sie verstand sich sehr gut mit Ursel Hellenbrink, was allerdings kein Wunder war, denn Ursel hatte Leni empfohlen. Und Roberta war sehr froh, dass sie der Empfehlung gefolgt war.

      Leni hatte sich fantastisch in das Team eingefügt, und das war Gold wert. Ein Störenfried in der Mannschaft konnte alles durcheinanderbringen.

      »Leni, was machen Sie denn hier?«, erkundigte Roberta sich. Da Roberta Ursel beim Vornamen nannte, hatte auch Leni darauf bestanden.

      Leni fühlte sich ertappt, dabei gab es überhaupt keinen Grund dazu.

      »Ich habe noch ein paar Probleme mit dem ganzen System hier, und deswegen wollte ich mir das noch einmal in aller Ruhe ansehen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ein wenig minderbemittelt zu sein.«

      Jetzt musste Roberta lachen.

      »Das war jetzt aber ganz eindeutig fishing nach Komplimenten, oder?


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