Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman. Michaela Dornberg
die Voliere erreicht, an der Pamela stand und vergebens versuchte, mit Fips zu reden.
Als sie ihre Großmutter bemerkte, drehte sie sich um, dann sagte sie zu ihr und Frau Dr. Fischer: »Ich glaube, Fips spürt, dass es für ihn auf die große Reise geht, er flattert ganz aufgeregt hin und her.«
Das glaubte Frau Dr. Fischer zwar nicht, doch dann betrat sie zusammen mit Pamela die Voliere, und es dauerte nicht lange, da war Fips eingefangen. Pamela durfte ihn in die Hand nehmen, und sie redete es sich bestimmt nicht ein, sie fühlte den aufgeregten Herzschlag des kleinen Vogels. Vielleicht aber war es auch ihr eigener Herzschlag, den sie wahrnahm, so aufgeregt wie sie war.
Gemeinsam mit Frau Dr. Fischer ging sie nach draußen.
»Jetzt kannst du Fips fliegen lassen«, forderte Frau Dr. Fischer sie auf.
Pamela zögerte einen Augenblick, strich zärtlich über das graue Gefieder des kleinen Spatzen, dann öffnete sie vorsichtig ihre Hand.
Es geschah nicht sofort etwas, doch dann flatterte Fips davon, genau, wie sie es sich gewünscht hatte, in die Freiheit, wohin er gehörte.
Pamela sah ihm nach, bis er sich irgendwo im Blau des Himmels verlor.
Sie war nur für einen kurzen Moment traurig, und das lag gewiss daran, dass ihre Omi ihr in Aussicht stellte, mit ihr ins ›Calamini‹ zu gehen, um einen großen Eisbecher zu essen.
Aber erst wollten sie sich die Tiere ansehen, ganz besonders die Neuzugänge, und da sie beide sehr tierlieb waren und keine Angst hatten, konnte es überhaupt nicht schaden, ein paar Streicheleinheiten zu verteilen. Ganz bei der Sache war Pamela allerdings nicht, denn sie musste an Fips denken und fragte sich in diesem Augenblick, ob er wohl zurück an den Sternsee geflogen war, wo sie ihn gefunden hatte. Schade, dass sie das nie ergründen würde. Es war nicht davon auszugehen, dass Fips auf sie zufliegen und sich auf ihre Schulter setzen würde.
Nachdem sie einen kleinen Mischlingshund gestreichelt hatte, der ganz zutraulich war, fragte sie ihre Oma: »Was meinst du, Omi, ob Mama und Papa wohl etwas dagegen hätten, wenn ich diesen süßen kleinen Hund mitnehmen würde?«
Teresa erinnerte sich daran, wie schwierig es gewesen war, ihrer Tochter zunächst Sam schmackhaft zu machen.
»Ich denke, du lässt es besser bleiben, mein Mädchen, aber du kannst deiner Mama ja davon vorschwärmen.«
Diese Idee fand Pamela gut, sie hakte sich bei ihrer Oma ein, weil sie jetzt Lust auf das versprochene Eis hatte und sagte leise: »Danke, dass du mitgekommen bist, Omi. Ich bin ja so froh, dass es dich und den Opi gibt. Ihr seid die liebsten Großeltern von der ganzen Welt, und ich hatte ganz schön viel Glück, bei euch zu landen.«
Pamela konnte mittlerweile über ihre Adoption sprechen, zum Glück. Einfacher wäre es für alle Beteiligten gewesen, man hätte Pamela sofort reinen Wein eingeschenkt und ihr gesagt, dass sie adoptiert, aber ein Kind ihres Herzens sei. Darüber heute noch nachzudenken, lohnte sich nicht. Teresa gehörte ohnehin nicht zu den Menschen, die ständig zurückblickten und der guten alten Zeit nachjammerten. Das, woran man sich erinnerte, entsprach eh nicht der damaligen Wirklichkeit.
»Wir hatten Glück, dich in unserem Leben aufnehmen zu dürfen, weil das für uns alle eine ganz große Bereicherung ist, und du bist …«
Teresa brach ihren Satz ab, weil ein Mädchen auf sie zugelaufen war, ungefähr in Pamelas Alter: »Pamela, was machst du in Hohenborn?«
Pamela erzählte von Fips und dass sie nun mit ihrer Oma ein Eis essen gehen würde.
Teresa bemerkte den sehnsuchtsvollen Blick des Mädchens und sagte: »Wenn du Lust hast, dann komm doch mit. Ich lade dich ein.«
Nicht nur das Mädchen freute sich, das, wie sich herausstellte, Jennifer hieß, das tat auch Pamela. Und das konnte Teresa gut nachvollziehen. Mit einer Gleichaltrigen konnte man viel interessantere Gespräche führen als mit einer alten Omi. Außerdem war auch schon alles gesagt.
*
Astrid Keppler war lange unentschlossen, wusste nicht, was sie tun sollte. Die beiden Ärztinnen waren so nett, und sie hatten ihr unabhängig voneinander geraten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Die meisten Vorschläge, die die Ärztinnen gemacht hatten, kamen für Astrid nicht infrage. Aber das mit einem Teilzeitjob in einem Textilgeschäft, das würde sie schon interessieren. Aber bestimmt war der Job längst weg.
Astrid versuchte, Oskar zu erreichen. Natürlich war sein Handy wie immer abgestellt, und prompt meldete sich nach der Umleitung des Gesprächs die nette Frau Winkelmann, die allerdings bedauerte, Astrid nicht sagen zu können, wann ihr Mann wieder erreichbar sei.
Astrid bedankte sich, beendete das Gespräch, sie wollte überhaupt nicht mehr wissen, wo Oskar sich gerade aufhielt. Was brachte das denn? Überhaupt nichts, für sie zählte nur, dass er wieder nicht nach Hause kommen würde. Und sie traute sich auch nicht mehr, jetzt etwas zu inszenieren, um ihn zu zwingen.
Jetzt konnte sie zwei Dinge tun, entweder in Lethargie verfallen oder sich aufraffen und nach Hohenborn fahren, zumal sie Amelie heute nicht mehr sehen würde. Die war lieber bei Frau Wolfram als bei ihrer Mutter, und heute wollten die gemeinsam einen Zoobesuch machen.
Auch wenn der Job weg war, hinderte niemand sie daran, ein bisschen durch Hohenborn zu schlendern, sich vielleicht etwas zu kaufen. Geld genug hatte sie ja, und einen großzügigen Ehemann dazu, da konnte sie sich nicht beklagen. Dass die Gegenwart ihres Mannes ihr lieber wäre, würden vielleicht manche Frauen nicht begreifen.
Sie raffte sich auf, duschte, zog sich an, und dann war es ein wenig mühsam, sich die Spuren wegzuschminken, die ihre letzte, unsinnige Attacke hinterlassen hatte. Es ging einigermaßen, doch dann kämmte sie sich die Haare so, dass nichts mehr zu sehen war. Den bandagierten Fuß konnte sie nicht wegzaubern. Doch darum machte sie sich keine Sorge, sie humpelte zwar noch ein wenig, doch das war kaum wahrnehmbar, und den Verband konnte sie unter einer Stiefelette verstecken.
Astrid war schon ein wenig aufgeregt, als sie nach Hohenborn fuhr. Frau Dr. Müller hatte den Weg zu dem Laden gut beschrieben, Astrid fand ihn sofort. Und sie war ein wenig beeindruckt, ›Outfit‹ war ein Geschäft, das sich hinter einem Laden in der Großstadt nicht verstecken musste. Ihr Herz begann zu schlagen, als sie den Zettel im Schaufenster entdeckte. Man suchte noch immer eine Aushilfe, und Astrid fragte sich unwillkürlich, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. War man zu wählerisch, und die Bewerber genügten den Ansprüchen nicht?
Schon wollte sie aufgeben, als sie sich dann doch einen Ruck gab, tief durchatmete und das Geschäft betrat. Die aus Granit und Stahl bestehende Einrichtung war beeindruckend, und Astrid gratulierte sich insgeheim, dass sie sich etwas flippiger angezogen und nicht eines dieser klassischen Outfits gewählt hatte, in denen Oskar sie am liebsten sah. Das wäre ein totaler Fehlgriff gewesen.
Das Geschäft war groß, Verkäuferinnen waren bemüht, Kundinnen zufriedenzustellen. Eine Frau, die ungefähr so alt sein mochte wie sie, kam auf Astrid zu, erkundigte sich nach ihren Wünschen und blieb noch immer freundlich, als Astrid erzählte, weswegen sie gekommen sei.
Die Frau war die Besitzerin Doreen von Senk, die das Gespräch nicht beendete, nachdem Astrid gestehen musste, dass sie keine gelernte Verkäuferin war.
Doreen stellte Fragen, die Astrid zum Glück beantworten konnte, und dann geschah etwas, was Astrid das Gefühl vermittelte, ins kalte Wasser geworfen zu sein, ohne dass danach gefragt wurde, ob sie überhaupt schwimmen könne.
»Dann zeigen Sie mal, was Sie können«, forderte Doreen sie auf, als eine Kundin den Laden betrat.
Astrid schwitzte Blut und Wasser, als sie auf die Kundin zuschritt, sie freundlich begrüßte und sich nach deren Wünschen erkundigte.
Die Frau wollte ein neues Outfit kaufen. »Wissen Sie, ich bin zum Geburtstag bei einer Freundin eingeladen, bei der sich immer nur dieselben Leute treffen. Da kann ich unmöglich etwas anziehen, was die anderen kennen, zumal da auch einige Frauen dabei sind, die sich in den Geschäften besser auskennen als in den eigenen