Der neue Sonnenwinkel Box 9 – Familienroman. Michaela Dornberg
Haus angekommen, warf Astrid ihre Jacke über einen Sessel, dann stürmte sie in Oskars Arbeitszimmer. Er hatte es nicht so gern, wenn man es betrat, doch heute, das war eine Ausnahme. Ehe sie anfing zu suchen, versuchte sie noch einmal, Oskar zu erreichen, wieder hatte sie kein Glück. Doch im Gegensatz zu sonst, zog es sie nicht herunter.
Sie knipste alle Lampen an, überlegte.
Wo sollte sie anfangen?
Sie nahm sich den Schreibtisch vor, der hatte nicht nur Fächer, sondern auch Schubladen. Das wusste sie, weil sie dieses Designerstück gemeinsam gekauft hatten. Ach, wie glücklich und verliebt sie damals gewesen waren. Sie hatten mehr Augen füreinander gehabt als für den Schreibtisch. Wäre es anders gewesen, hätten sie bestimmt nicht das viele Geld dafür ausgegeben. Aber schön war er.
Astrid setzte sich auf den schwarzen Ledersessel, schnupperte daran, und das machte sie schon wieder sehnsuchtsvoll, denn über allem lag der herbe Duft, den sie an ihm so liebte.
Oskar war unverwechselbar mit diesem Duft verbunden, und sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie ungehalten er gewesen war, als sie ihm einen anderen Duft hatte schenken wollen. Sie hatte ihn niemals an ihm gerochen, und sie wusste auch nicht, was damit geschehen war.
Sie riss sich zusammen, sie war nicht hier, um zu träumen, sondern um ihre Papiere zu finden.
Ein wenig verunsichert fühlte sie sich schon, als sie die erste Schublade aufzog. Sie war sich nicht sicher, wie Oskar darauf reagieren würde.
Andererseits konnte er nichts dagegen haben. Sie war seine Frau, und es gab nichts Kompromittierendes. Ihre Papiere allerdings ebenfalls nicht. Im Schreibtisch fand sie nichts, danach wandte Astrid sich dem Aktenschrank zu, vergebens. Sie merkte, wie sie die Lust verlor, kein Wunder, denn in solchen Papieren herumzusuchen, das machte wirklich keinen Spaß.
Ihr Blick fiel auf ein kleines, in der Nähe stehendes Regal, in dem sich einige Akten befanden, und dann las sie auf einem Ordner ihren Namen.
Was für ein Glück.
Mit Schwung riss sie den Ordner heraus, wohl zu schwungvoll, denn zwei weitere Ordner polterten zu Boden.
Astrid legte ihren Ordner beiseite, dann griff sie nach einem der heruntergefallenen Ordner, stellte ihn wieder ordentlich in das Regal. Das wollte sie mit dem zweiten Ordner ebenfalls tun, der glitt ihr aus der Hand, fiel erneut zu Boden, und als Astrid ihn wieder aufheben wollte, fielen zwei Fotos heraus. Das erstaunte sie ein wenig, nicht, weil sie die Fotos gefunden hatte, sondern sie fragte sich, was die in einem Ordner zu suchen hatten, der alte Einkommenssteuererklärungen enthielt. Dafür interessierte Astrid sich nicht, für die Fotos schon, sie nahm sie in die Hand und setzte sich in den Sessel, um sie in aller Ruhe zu betrachten.
Von wegen Ruhe …
Auf dem einen Foto sah sie eine Frau, ein wenig rundlich, mit einem lieben Gesicht und warmen braunen Augen, daneben ein Mädchen, das ungefähr zehn, zwölf Jahre alt sein mochte, und das Astrid an jemanden erinnerte.
Wer waren die Frau und das Kind?
Sie griff nach dem zweiten Foto, wieder waren eine Frau und ein Kind zu sehen. Diesmal war die Frau wesentlich jünger als sie, und das Kleinkind, das sie auf dem Arm trug, war keine zwei Jahre alt.
Was hatte das zu bedeuten?
Und wieso hatten die Fotos in einer Akte mit Einkommenssteuern gelegen?
Sie war zwar seit einigen Jahren mit Oskar verheiratet, doch jetzt wurde ihr bewusst, dass er niemals viel über sich gesprochen hatte.
Waren diese Frauen seine Schwestern und deren Kinder?
Aber dann stellte man die Fotos doch auf, von ihr und Amelie gab es auf seinem Schreibtisch ein Foto, und er hatte eines für sein Büro mitgenommen.
Also, wer waren diese Frauen und diese Kinder?
Astrid legte die Fotos nebeneinander, versank in Betrachtungen, versuchte, Ähnlichkeiten herzustellen, und dann entdeckte sie die bei dem älteren Mädchen mit Oskar. Dass sie nicht direkt darauf gekommen war. Klar, das Mädchen ähnelte ihm. Dann musste die Frau daneben seine Schwester sein. Sie sah so nett aus, warum hatte Oskar niemals über sie gesprochen?
Die andere Frau war sehr jung, wirkte selbstbewusst, Astrid hatte keine Ahnung, warum sie die nicht so mochte.
Was hieß mögen?
Was sie vor sich hatte, waren Bilder, die sie zufällig gefunden hatte, und nur Oskar konnte ihr dazu eine Erklärung geben.
Sie schreckte zusammen, als ihr Handy klingelte, das sie vorsichtshalber mitgenommen hatte. Darauf war sie richtiggehend fixiert, um ja keinen Anruf von ihrem Mann zu verpassen.
Und was für ein Glück, er war es.
»Astrid, mein Liebes, ich habe zwar nicht viel Zeit, doch ich muss deine Stimme hören, ich muss dir sagen, wie sehr ich dich liebe, wie sehr ich dich vermisse.«
Sie liebte ihn, und was sie hörte, war wie ein süßes Gift, von dem sie nicht genug bekommen konnte. Es war unmöglich, ihm jetzt von dem Job in dem Textilgeschäft zu erzählen, noch von den Fotos, auf die sie sich keinen Reim machen konnte, und dass sie an seinem Schreibtisch, in seinem Sessel saß, das verschwieg sie ebenfalls. Sie musste nach nichts fragen, sie hatte ihre Unterlagen gefunden. Und über alles andere konnten sie sprechen, wenn er wieder daheim war. Und das war es.
»Wann kommst du nach Hause, Liebster?«, erkundigte sie sich sehnsuchtsvoll.
Sie hätte die Frage nicht stellen müssen, denn seine Antworten glichen sich immer wieder, und die bedeuteten viel Arbeit, Probleme, unaufschiebbare Geschäftsreisen.
»Astrid, mein Herz, ich arbeite daran, dass bessere Zeiten für uns kommen werden. Und dann werde ich dich auch für alles entschädigen. In Gedanken bin ich immer bei dir und unserer süßen kleinen Amelie. Küss sie von ihrem Papa, und du schließe mich bitte in deine Abendgebete mit ein. Ich liebe dich, das darfst du niemals vergessen, hörst du? Und nun muss ich aufhören, unsere Konferenz beginnt gleich, und ich muss mir unbedingt vorher etwas zu trinken besorgen. Auf bald.« Er wartete keine Antwort ab, sondern legte auf.
Warum hatte sie ihn nicht auf die Fotos angesprochen?
Warum hatte sie ihn eigentlich nicht gefragt, wo er sich gerade befand?
Astrid ärgerte sich über sich selbst, solche Fragen fielen ihr immer vorher oder hinterher ein.
Wenn Oskar da war oder wenn er sie anrief, dann war sie Wachs in seinen Händen, dann konnte sie ihm nicht widerstehen, dann waren alle Gedanken weg, dann sah und hörte sie nur noch ihn.
Da sie ihr Handy schon mal in der Hand hatte, tat sie etwas, was eigentlich ganz unverzeihlich war. Sie machte Fotos von den Fotos, vorsichtshalber jeweils mehrere. Dann schob sie die Originale wieder in den Aktenordner.
Sie hatte ein ganz ungutes Gefühl dabei. Etwas machte ihr Angst und ließ deswegen die Freude über den Job verblassen.
*
Wunder geschahen zwar immer wieder, doch rechnen konnte man nicht damit. Und es war kaum noch mit anzusehen, wie sehr die arme Alma litt. Sie hatte geglaubt, der Kommissar müsse nur mit dem Finger schnippen, und schon sei Pia gefunden.
Roberta hatte alle Mühe, Alma zurückzuhalten, die am liebsten von morgens bis abends die Gegend abgegrast hätte. So groß war Hohenborn nun nicht gerade, doch es gab viele Ecken, die man nicht kannte. Und wer sagte denn, dass Pia überhaupt in Hohenborn geblieben war?
Alma sah es schließlich ein, und Roberta atmete insgeheim auf. Sie war mit Henry Fangmann so verblieben, dass der sich sofort bei ihr melden würde, und da war Roberta sogar bereit, sich während der Sprechstunde stören zu lassen, was sonst nicht die Regel war. Roberta war der Meinung, dass nichts so wichtig war, um nicht verschoben werden zu können.
Roberta hatte gerade einen Patienten verabschiedet, als Ursel Hellenbrink ihr ganz aufgeregt zuwinkte und rief: »Frau Doktor, ein Anruf für Sie … Herr Fangmann.« Natürlich war Ursel