Die Biene Maja und ihre Abenteuer. Waldemar Bonsels
antwortete die kleine Maja, „an so etwas habe ich niemals gedacht.“
Die Libelle sah sie an.
„Es ist ihm dann ein schwarzes Seil um die Brust gebunden worden, mitten zwischen seinen Flügeln, so dass er wohl auffliegen, aber niemals entrinnen konnte. Jedes Mal, wenn mein armer Bruder glaubte, seine Freiheit zurückgewonnen zu haben, sah er sich auf die grausamste Weise an jenem bereits erwähnten Seil wieder in das Bereich des Knaben zurückgezerrt.“
Maja schüttelte nur den Kopf.
„Man darf es sich gar nicht vorstellen“, flüsterte sie traurig.
„Wenn ich einmal einen Tag nicht daran gedacht habe, so träume ich sicher davon“, fuhr Schnuck fort. „Es kam damals sehr viel zusammen. Schließlich starb mein Bruder.“ Schnuck seufzte tief auf.
„Woran starb er?“ fragte Maja in aufrichtiger Teilnahme.
Schnuck konnte nicht gleich antworten, große Tränen brachen aus ihren Augen und liefen langsam über die Wangen:
„Er ist in die Tasche gesteckt worden,“ schluchzte sie, „das hält niemand aus ...“
„Was ist das?“ fragte Maja ängstlich, die kaum in der Lage war, so viel Neues und Böses auf einmal zu verstehen und zu bewältigen.
„Die Tasche“, erklärte ihr Schnuck, „ist eine Vorratskammer, die die Menschen in ihrem äußeren Fell haben. Aber was glauben Sie, das sonst noch darin war? O, in welch furchtbarer Gesellschaft musste mein armer Bruder seine letzten Atemzüge tun. Sie werden niemals darauf kommen!“
„Nein,“ sagte Maja mit bebendem Atem, „ich werde es nicht ... vielleicht Honig?“
„Nein, nein“, meinte Schnuck, sehr wichtig und sehr traurig zugleich. „Honig werden Sie selten in den Taschen der Menschen finden. Ich will Ihnen sagen, was darin war: es war ein Frosch, ein Taschenschwert und eine gelbe Rübe. Nun?“
„Schaurig,“ flüsterte Maja, „was ist ein Taschenschwert?“
„Es ist gewissermaßen der künstliche Stachel des Menschen. Da ihm die Natur diese Waffe versagt hat, sucht er sie nachzubilden. Der Frosch war gottlob bereits im Begriff, das Zeitliche zu segnen. Er hatte ein Auge verloren, ein Bein gebrochen und sein Unterkiefer war ausgerenkt. Aber sobald mein Bruder in der Tasche erschien, zischte der Frosch aus seinem schiefen Maul:
‚Wenn ich genesen bin, werde ich Sie unverzüglich verschlingen.‘ Dabei schielte er mit dem übrig gebliebenen Auge auf den bedauernswerten Ankömmling. Dieser Blick muss in der Dämmerung des Gefängnisses auf das furchtbarste gewirkt haben. Mein Bruder hat die Besinnung verloren, als er gleich darauf durch eine unerwartete Erschütterung so gegen den Frosch gepresst wurde, dass seine Flügel an dem kalten nassen Leib des Sterbenden kleben blieben. O, man kann keine Worte finden, um dies Elend in der treffendsten Weise zu kennzeichnen.“
„Woher wissen Sie das alles?“ stotterte Maja aufs äußerste entsetzt.
„Später warf der Knabe meinen Bruder und den Frosch fort, als er Hunger bekam und die Rübe suchte, um sie zu verzehren. Ich fand sie nebeneinander im Gras liegen, angelockt durch die Hilferufe meines Bruders. Aber ich kam nur noch zeitig genug, um alles zu hören und ihm die Augen zuzudrücken. Er legte seinen Arm um meinen Hals und küsste mich zum Abschied. Dann starb er tapfer und ohne Klage, als ein kleiner Held. Als das letzte Beben seiner zerknitterten Flügel aufgehört hatte, legte ich Eichblätter über ihn und suchte ein erblühtes Männertreu, dessen blaue Blume zu seiner Ehre auf dem Hügel verwelken sollte. ‚Leb wohl,‘ rief ich, ‚schlaf gut, mein kleiner Bruder‘, und flog in den stillen Abend hinaus, den beiden roten Sonnen entgegen, denn man sah die Sonne zweimal, am Abendhimmel und im See. So traurig und feierlich ist noch niemandem zumute gewesen. — Ist Ihnen auch schon etwas Trauriges passiert? Dann erzählen Sie es mir vielleicht ein andermal.“
„Nein,“ sagte Maja, „ich bin eigentlich bis jetzt immer froh gewesen.“
„Da können Sie Gott danken“, meinte Schnuck, etwas enttäuscht.
Maja fragte nach dem Frosch.
„Ach so, der“, sagte Schnuck. „Er erlitt voraussichtlich den Tod, den er verdiente. Wie konnte er nur die Hartherzigkeit aufbringen, einen Sterbenden zu ängstigen? Er versuchte damals zu entkommen, aber da sein eines Bein sowohl als auch sein eines Auge völlig außer Tätigkeit gesetzt waren, hüpfte er ununterbrochen im Kreise herum. Es sah außerordentlich komisch aus. ‚So wird der Storch Sie bald gefunden haben‘, rief ich ihm zu, bevor ich davonflog.“
„Der arme Frosch“, sagte die kleine Maja.
„Nun, ich muss doch bitten,“ meinte die Libelle nicht ohne Entrüstung, „Sie gehen zu weit. Einen Frosch bedauern, heißt sich in den eigenen Flügel schneiden. Sie sind eine gewissenlose Person, wie mir scheint.“
„Das kann ja sein,“ antwortete Maja, „aber es wird mir sehr schwer, jemanden leiden zu sehen.“
„O,“ tröstete sie Schnuck, „das liegt an Ihrer Jugend, Sie werden es lernen, nur Mut, meine Freundin. Aber ich muss nun fort in die Sonne. Es ist hier reichlich kühl. Leben Sie wohl!“
Es klirrte leise, und tausend helle Farben blitzten auf, blasse, liebliche Farben, wie rinnendes Wasser sie hat und klare Edelsteine. Schnuck schwang sich durch die grünen Schilfhalme bis auf die Oberfläche des Wassers, und Maja hörte sie in der Morgensonne singen. Sie lauschte dem feinen Gesang, der etwas von der schwermütigen Süßigkeit eines Volksliedes hatte und das Herz der kleinen Maja fröhlich stimmte und traurig zugleich. Es klang zu ihr herüber:
Lieblich ist der stille Fluss,
wenn der Morgensonne Gruß
seine Flut getroffen.
Wo der grüne Schilfhalm weht
und die Wasserrose steht,
weiß und gelb und offen.
Warmer Duft und Wind und Flut,
auf den Flügeln Sonnenglut
und im Herzen Freude.
Ach, das Leben ist nicht lang,
goldner Sommer, habe Dank,
herrlich ist es heute.
„Horch, das Lied der Libelle erschallt“, rief ein weißer Schmetterling seiner Freundin zu. Sie schaukelten sich dicht an Maja vorüber durch das strahlende Blau des schönen Tags. Da hob auch die kleine Biene ihre Flügel, und mit leisem Summen begrüßte sie den silbernen See zum Abschied und flog landeinwärts davon.
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