Coyote. Jens-Uwe Sommerschuh
Es war Linnet. Ich bemerkte, dass ich nicht mehr nackt war. Linnet schien weder die Pistole noch die Frau zu sehen, die jetzt auf sie zielte.
»Ich habe Feierabend«, sagte sie fröhlich zu mir, »kommst du mit zur Golden Gate Bridge?«
Ich nickte und löste mich aus meiner Ecke.
Der Schuss war viel leiser, als ich erwartet hatte. Die Kugel ging durch Linnets Latzhose, direkt neben dem Aufnäher, auf dem »Blue Asphalt« stand. Linnet schüttelte sich kurz, als wäre sie gekitzelt worden. Sie wandte sich unbeeindruckt zur Tür, und ich folgte ihr benommen. Nach zwei Schritten erstarrte ich.
»Du Mistkerl«, hatte ich die Frau im Sessel sagen hören, »du kannst gar nicht gehen. Oder habe ich dich etwa freigegeben?«
6
Es war kurz vor zwölf, als ich erwachte, ich fühlte mich wie gerädert. Sicherlich hatte ich Mist geträumt, aber ich erinnerte mich nicht. Mit steifen Gliedern stakste ich zum Fenster.
Durch den Lichtschacht sauste polternd ein Eimer in die Tiefe und wurde gleich darauf, mit nasser Wäsche beladen, wieder hochgezogen, wobei er heftig an mein Fensterbrett bumste. Der unsichtbare Inder brüllte vom Dach aus eine unsichtbare Inderin an, die von unten eine Antwort piepste, die den unsichtbaren Inder zu einem Wutausbruch veranlasste, seine Stimme überschlug sich. Wahrscheinlich hatte sie den Eimer zu voll gepackt, oder er hatte keine Lust, die Wäsche aufzuhängen, er hatte nicht den weiten Weg von Bombay nach Chinatown auf sich genommen, um hier wie der letzte Inder … Womöglich hatten sie sich aber auch nur über das Wetter ausgetauscht.
Das Wetter benahm sich nicht schlecht, die Hitze hielt sich in Grenzen, der berühmte Nebel war erst gegen Abend zu erwarten, und nachdem ich mich durch gut eine Million Chinesen gedrängelt hatte, die den Frischegrad von toten Fischen und welkenden Algen prüften, fand ich ein sonniges Plätzchen an der Columbus vorm Café Greco, einer Espresso-Bar im italienischen Stil. Ich vertiefte mich in den aktuellen Chronicle, den ich aus einem Papierkorb gezogen hatte.
In Mexiko waren in der Nähe einer Stadt namens Taxco die Leichen zweier junger Männer gefunden worden, Söhne eines Millionärs, der sich geweigert hatte, Lösegeld zu entrichten. Da den Opfern je ein Ohr fehlte, deutete nach Ansicht von Insidern alles darauf hin, dass neuerlich die Brüder Arellano zugeschlagen hatten, ein Erpressertrio, das als Zeichen seiner ernsthaften Absichten kleine Körperteile der Entführten zu verschicken pflegte. Diesmal mussten sie jedoch auf dem Postweg verloren gegangen sein, die mexikanische Post hatte einen noch schlechteren Ruf als die Polizei.
Auf der Leserbriefseite setzte sich ein pensionierter Major, der lange das Rauschgiftdezernat des San Francisco Police Departments geleitet hatte, mit einem Artikel auseinander, in dem sich der Ex-Polizeichef einer Nachbarstadt zu der Ansicht verstiegen hatte, die hiesigen Drogenfahnder seien der Korruption nicht abgeneigt und es herrsche stilles Einverständnis über Geben und Nehmen. Der Major hingegen bewies klipp und klar, dass seine Rauschgiftfahnder außerordentliche Beispiele für leidenschaftliche und ehrenhafte Polizeiarbeit boten, zumindest unter seiner Ägide geboten hatten.
Gähnend wandte ich mich den Todesnachrichten zu. Das wäre eine lustige Sache, wenn es nicht eine an sich traurige wäre. Denn die skurrilen Details dieser Spalten waren für mich der wahre Grund, den Chronicle zu studieren, sie steckten voller Leben. Zunächst waren die Namen in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet, damit man schon mal einen Überblick hatte, und dann folgten die mit komprimierten Informationen, Würdigungen und ein wenig Klatsch gespickten Texte, die Näheres über die Verblichenen brachten.
Myra Gock war sechsundsechzig ihrer achtundachtzig Jahre mit Fred Gock fruchtbar verheiratet gewesen und wurde als grandiose Bridge-Spielerin gepriesen.
Martha Kardum hatte Verwandte mit dem Namen Grgich, woraufhin es niemanden zu verwundern brauchte, dass die Trauerfeier in der baptistisch-serbisch-orthodoxen Kirche stattfinden würde.
Takashi Kataoka hatte mehreren Clubs angehört, darunter dem Golden Gate Optimist Club.
Jose Lederer war 1939 aus der Tschechoslowakei ausgewandert und hatte in Panama zehn Jahre warten müssen, bis ihn die USA einreisen ließen. Vermutlich waren ihm über der Warterei ein oder zwei Buchstaben seines Vornamens verloren gegangen, was ihn sicher nicht mehr schmerzte, als er in den Fünfzigerjahren prompt in den Ruf gelangte, »einer der feinsten Diamantenhändler der westlichen Bundesstaaten« zu sein.
Arthur W. Scoyles hatte Weltkrieg, Korea und Vietnam überlebt und für seine Dienste das Purpurne Herz für Heroismus verliehen bekommen, ein Mann Gottes und der irdischen Heerscharen zugleich, er war als Ex-Pastor, Reverend und Major gestorben.
Edith Jeanne LaFleur aus Burlingame schließlich hatte »trotz eines turbulenten Lebens noch im hohen Alter immer ein sehr schönes Lächeln« gehabt. Sie war neunzig Jahre alt geworden und würde morgen Abend auf dem italienischen Friedhof in Colma bestattet werden.
Ich stellte mir eine zierliche weißhaarige Dame vor, die, geheimnisvoll lächelnd sich all der Turbulenzen erinnernd, in ihrem Sessel saß, und sie war mir augenblicklich sympathisch. Zudem kam mir der Name seltsam vertraut vor. In einem Hirnwinkel blitzte ein weißer Zipfel Erinnerung auf. Ich überlegte kurz, ob ich … Doch ich verwarf den Gedanken. Colma lag ziemlich weit im Süden, südlich von Daly City, und außerdem – was sollte ich dort?
Ich faltete das Blatt zusammen und steckte es ein. Es war schon zehn nach halb eins. Ungeduldig spähte ich die Columbus hinunter, mein Blick blieb hier an einem knackigen Po und dort an einem ausladenden Kotflügel hängen, aber eine Kapelle sah ich nirgends.
Unvermittelt sprang ein Mann auf die Kreuzung, reckte eine Papptafel in die Höhe, auf die ein Stoppschild gemalt war, unter dem das Wort »Funeral« geschrieben stand, Beerdigung. Bremsen quietschten, und dann hörte ich das Tschingderassassa frohsinniger Marschmusik. Ein Zug von anthrazitfarben gekleideten Männern und Frauen mit Pauken und Trompeten, der Heilsarmee nicht unähnlich, stapfte auf die Kreuzung, gefolgt von einer schwarzen Limousine, die so lang war, dass zu fürchten stand, sie würde durchbrechen. Danach schlichen ein Leichenwagen und eine weitere Limousine vorüber, und es folgten zwei Dutzend Autos, die sich von anderen nur darin unterschieden, dass an ihren Frontscheiben Zettel mit dem Wort »Funeral« klebten. Der Zug schleppte sich ein paar Meter auf der Columbus entlang, um gleich wieder abzubiegen, und es schien, als wollte er sich seinen Weg durch das Gewimmel von Chinatown bahnen. Als der Posten mit dem Pappstoppschild die Kreuzung räumte und die Pos und Kotflügel und alles andere aus der vorübergehenden Erstarrung erwachten, legte sich eine Hand auf meine Schulter. »Hallo, du Coyote«, raunte eine Stimme, »verdammter Mistkerl.« Ich fuhr herum und sah zunächst das von einem grauen Drahtbart nur schlecht verdeckte Grinsen Johanns, ich sah das Eichhörnchen auf Bekkers Schulter, und es war schlicht unmöglich, Vickie zu übersehen, die ein drei Nummern zu enges kanariengelbes T-Shirt ins Rennen warf, aber ich versuchte es.
Coyote und Mistkerl hatte eindeutig sie gesagt. Auch die Hand auf meiner Schulter gehörte ihr. »Da hätten wir also unser Paar wieder vereint«, meinte Johann.
Es gelang mir, Vickie immer noch wie Luft zu behandeln. Stattdessen gratulierte ich Johann zu der präzisen Verabredung und begrüßte Bekker und das Eichhörnchen.
»Der Trauerzug war eine prima Idee«, sagte Johann streng, während Bekker eine Verbeugung andeutete. »Hätten wir den hier verpasst, hätten wir den nächsten genommen. Hier wird dreimal täglich zügig getrauert, und das ergibt immer ein hübsches Gedrängel, in dem ein Einzelner nicht auffällt. Sei froh, dass ich Bekker gefunden habe.«
Bekker schaute seinem Eichhörnchen fragend in die Augen, und da es nicht den Kopf schüttelte, nickte er.
»Sehr erfreut, mein Freund«, sagte er zu mir, »dich an einem weiteren wundervollen Tage wiederzusehen und die Bekanntschaft von Meister Johann gemacht zu haben. Sommerregenguss – doch hundert Schritte weiter lacht er schon wieder. Ein Haiku von Kachin, dem Auf und Ab deiner Seele angemessen. Und du, meine Freundin«, er wandte sich an Vickie, die auf ihrer Unterlippe kaute, »du bist schön wie der Regen, der die Wiesen tränkt und uns wissen lässt, wo oben ist und wo unten, denn dein Weg führt dich erdwärts, wo deine Wasser sich verlaufen