Der gestohlene Bazillus. Herbert George Wells

Der gestohlene Bazillus - Herbert George Wells


Скачать книгу
Wange; und gleich darauf muß ich eingeschlafen sein.

      Ich erwachte ganz plötzlich aus einem Traum von seltsamen Tieren. Ich lag auf dem Rücken. Jeder kennt ja wohl dieses schwere, aufgeregte Träumen, aus dem man zwar wach, aber seltsam niedergedrückt ersteht. Ich hatte einen sonderbaren Geschmack im Mund, ein müdes Gefühl in den Gliedern, ein Unbehagen über die ganze Haut. Ich ließ meinen Kopf regungslos auf dem Kissen liegen, in der Erwartung, daß dies Gefühl von Sonderbarkeit und Entsetzen wahrscheinlich bald wieder verschwinden, und daß ich wieder einschlafen würde. Statt dessen nahm das unheimliche Empfinden nur immer zu. Anfänglich bemerkte ich nicht, daß in meiner Umgebung irgend etwas nicht stimmte. Ein schwaches Licht war im Zimmer, so schwach, daß es sich kaum vom Dunkel unterschied, und die Möbel hoben sich als verschwommene Kleckse völligen Dunkels davon ab. Ich starrte, die Augen dicht über der Bettdecke, um mich.

      Erst kam mir der Gedanke, es sei jemand ins Zimmer gedrungen, um mir meine Rolle Geld zu stehlen; aber nachdem ich ein paar Minuten still, regelmäßig atmend, um Schlaf zu simulieren, dagelegen hatte, erkannte ich, daß das bloße Einbildung war. Trotzdem ließ mich die unbehagliche Überzeugung nicht los, daß irgend etwas nicht stimmte. Mit einer Anstrengung hob ich den Kopf vom Kissen und spähte um mich ins Dunkel. Was es war, das begriff ich nicht. Ich blickte auf die undeutlichen Formen um mich her, die größeren und kleineren Finsternisse, die Vorhänge, Tisch, Kamin, Bücherständer usw. bezeichneten. Dann fing ich an, etwas Unvertrautes in diesen Formen der Dunkelheit zu entdecken. Hatte das Bett sich umgedreht? Dort drüben mußten doch die Bücherständer stehen; und etwas Verhülltes, Fahles erhob sich da, etwas, das unmöglich ein Bücherständer sein konnte, mochte ich es ansehen, wie ich wollte. Mein über einen Stuhl geworfenes Hemd konnte es nicht sein; dazu war es viel zu groß.

      Ich überwand ein fast kindisches Grauen, warf die Betttücher zurück und fuhr mit dem einen Bein aus dem Bett. Anstatt von meinem Feldbett auf den Boden zu kommen, merkte ich, daß mein Fuß kaum den Rand der Matratze erreichte. Ich machte sozusagen einen zweiten Schritt und setzte mich am Rand des Bettes auf. Neben meinem Bett mußte auf dem zerbrochenen Stuhl die Kerze mit den Streichhölzern stehen. Ich streckte die Hand aus – – Nichts! Ich fuhr mit der Hand im Dunkeln herum, und sie schlug gegen ein Etwas von weichem, dickem Stoff, das bei der Berührung ein leises Rauschen ertönen ließ. Ich packte es und zog daran; es schien ein vom Kopfende meines Bettes herabhängender Vorhang zu sein.

      Ich war jetzt völlig wach und fing an zu begreifen, daß ich in einem fremden Zimmer lag. Das verwirrte mich. Ich versuchte, mich der Umstände des vorhergehenden Abends zu entsinnen, und fand auf einmal, sonderbarerweise, daß sie mir ganz lebhaft in Erinnerung standen: wie wir zu Abend aßen, wie ich die kleinen Pakete in Empfang nahm, wie ich mich selber fragte, ob ich eigentlich betrunken sei, wie ich mich langsam auszog, wie kühl das Kissen sich gegen mein erhitztes Gesicht anfühlte. Ein plötzliches Mißtrauen überkam mich. War das gestern nacht gewesen oder die Nacht vorher? Jedenfalls – dies Zimmer war mir fremd, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich hierhergeraten war. Der undeutliche, fahle Umriß ward blasser, und ich bemerkte, daß es ein Fenster war, vor dem sich die dunkle Form eines ovalen Toilettenspiegels von der schwachen Andeutung von Morgendämmern, die durch die Gardine sickerte, abhob. Ich erhob mich; ein sonderbares Gefühl von Schwäche und Unsicherheit überraschte mich. Mit ausgestreckten, zitternden Händen ging ich langsam auf das Fenster zu, stieß aber trotzdem unterwegs mit dem Knie gegen einen Stuhl. Ich tastete hinter dem Spiegel, der groß und mit schönen Bronzeleuchtern versehen war, nach der Vorhangschnur. Aber ich fand keine. Zufällig kam mir schließlich die Quaste in die Hand, eine Feder schnappte, und die Gardine rollte in die Höhe.

      Ich blickte auf eine Landschaft, die mir vollkommen fremd war. Der Himmel war bedeckt, und durch das fedrige Grau der Wolkenmassen sickerte ein schwaches, dämmeriges Halblicht. Ganz am Rand des Himmels zeigte die Wolkendecke einen blutroten Saum. Unten war alles undeutlich und verschwommen, dunkel; in der Ferne ineinanderlaufende Hügel, eine nebelhafte Masse von Gebäuden, die gleich Zinnen emporragten, Bäume – wie verschüttete Tinte – und unter dem Fenster ein Geschnörkel von schwarzen Büschen und bleichgrauen Wegen. So gar nicht vertraut war es mir, daß ich im Augenblick glaubte, ich träume noch. Ich befühlte den Toilettentisch; er schien aus irgendeinem polierten Holz gearbeitet und war ganz üppig ausgestattet – kleine Fläschchen aus Kristall und eine Bürste lagen darauf. Auch ein sonderbarer kleiner Gegenstand war da – hufeisenförmig fühlte er sich an, mit glatten, harten Vorsprüngen –, der auf einem Teller lag. Streichhölzer oder eine Kerze konnte ich nicht finden.

      Ich wandte meine Augen wieder aufs Zimmer. Nun, da die Gardine aufgezogen war, traten die Möbel gleich bleichen Gespenstern aus dem Dunkel hervor. Ein riesiges Himmelbett stand da, und der Kamin an seinem Fußende hatte eine große, weiße Verkleidung, die wie Marmor schimmerte.

      Ich lehnte mich gegen den Toilettentisch, schloß die Augen, öffnete sie wieder und versuchte zu denken. Das alles war viel zu wirklich, als daß es ein Traum hätte sein können. Fast neigte ich zu der Annahme, daß irgendwo in meinem Gedächtnis noch eine Lücke sein müsse – eine Folge jener seltsamen Flüssigkeit, die ich getrunken hatte. Vielleicht hatte ich meine Erbschaft schon angetreten und hatte die Erinnerung verloren an das, was zwischen heut' und dem Tag lag, an dem mir mein Glück verkündet worden war. Vielleicht, wenn ich noch ein bißchen wartete, würden die Dinge von selbst wieder klarer werden. Und doch – mein Abendessen mit dem alten Elvesham stand jetzt ganz merkwürdig lebendig und frisch in meiner Erinnerung. Der Sekt, die beflissenen Kellner – das Pulver – die Liköre. – – Ich hätte meine Seele darauf wetten können, daß all dies sich erst vor wenigen Stunden ereignet hatte.

      Und dann geschah etwas – etwas so Alltägliches und doch für mich so Entsetzliches, daß mich noch heute beim bloßen Gedanken an jenen Moment schaudert. Ich sprach laut. Ich sagte: »Wie des Teufels bin ich denn hierhergeraten?«

      ... Und die Stimme war nicht meine Stimme.

      Es war nicht meine Stimme! Die Artikulation war verwischt – die ganze Resonanz meiner Schädelknochen war anders ... Um mich meiner selbst zu vergewissern, strich ich mit der einen Hand über die andere ... Ich fühlte lose Hautfalten, die knöcherne Schlaffheit des Alters ... »Ganz gewiß –« sagte ich in der fürchterlichen Stimme, die sich da irgendwie meiner Kehle bemächtigt hatte, »ganz gewiß – – es ist nur ein Traum!« Plötzlich, als täte ich es unwillkürlich, fuhr ich mir mit den Fingern in den Mund. Meine Zähne waren weg. Meine Fingerspitzen glitten über eine welke Oberfläche ebenen, verschrumpelten Zahnfleisches. Mir ward übel vor Ekel und Entsetzen ... Ich empfand den leidenschaftlichen Wunsch, mich selber, mein eigenes Ich zu sehen, die unheimliche Veränderung, die mit mir vorgegangen war, auf einmal und in ihrem vollen Grauen mir klarzumachen. Ich wankte nach dem Kamin und tastete auf dem Sims nach Streichhölzern. Während ich dahinstolperte, überfiel mich ein bellender Husten, und ich packte das dicke Flanellnachthemd, das um mich schlotterte. Streichhölzer waren auch da keine. Und ich merkte plötzlich, daß ich kalte Hände und Füße hatte. Pustend und hustend und vermutlich auch leise vor mich hingreinend tastete ich mich zu meinem Bett zurück.

      »Es ist ja doch ein Traum!« wimmerte ich vor mich hin, während ich wieder ins Bett kletterte. »Ganz gewiß – nur ein Traum!« So recht nach Greisenart wiederholte ich das immer wieder. Ich zog mir die Bettücher über die Schultern – über die Ohren – Ich schob die Hand unters Kissen – fest entschlossen: ich wollte schlafen. Natürlich war es ein Traum. Mit dem Morgen würde der Traum vorüber sein, und ich würde aufwachen wie immer – stark und gesund – – erwachen – zu meiner Jugend und meinen Studien. Ich schloß die Augen, atmete regelmäßig, und – da ich merkte, es ging nicht – fing ich an, das Einmaleins herzusagen.

      Aber das Gewünschte wollte sich nicht einstellen. Ich konnte nicht einschlafen. Und eine Überzeugung von der unerbittlichen Wirklichkeit der Veränderung, die mit mir vorgegangen war, wuchs immer mehr in mir. Bald lag ich mit weit offenen Augen da – das Einmaleins war vergessen – und meine knöchernen Finger fuhren an meinem verschrumpelten Zahnfleisch herum. Es war so – ich war plötzlich – unvermittelt – ein alter Mann geworden. Ich war auf irgendeine unbegreifliche, unerklärliche Art gleichsam durch mein Leben durchgerutscht und zum Greis geworden – ich war irgendwie betrogen um alles Beste im Leben


Скачать книгу