Der gestohlene Bazillus. Herbert George Wells
– setzte ich mich im Bett auf und sah mich um. Ein kaltes Zwielicht erhellte das ganze Zimmer. Es war geräumig und gut ausgestattet – besser als je ein Zimmer, in dem ich bisher geschlafen hatte. Auf einem kleinen Gestell in einer Nische erblickte ich bald auch eine Kerze und Streichhölzer. Ich warf die Laken zurück und stand – schaudernd vor der rauhen Morgenluft, obschon es Sommer war – auf und zündete die Kerze an. Darauf wankte ich – mit einem Zittern, so daß das Lichthütchen gegen den Leuchter klapperte – nach dem Spiegel und erblickte – Elveshams Gesicht! Es war nicht weniger schrecklich, weil ich das schon gefürchtet hatte. Er war mir immer schwächlich und jämmerlich elend vorgekommen; aber wie ich ihn jetzt – – so – – bloß mit einem groben Flanellhemd bekleidet, das über der Brust offen stand und den sehnigen, dürren Hals enthüllte – – so – an Stelle meines eigenen Körpers – – sah – – Ich kann diese jämmerliche Verfallenheit gar nicht beschreiben! Die hohlen Wangen, die vereinzelten Strähne schmutzig-grauen Haars, die triefenden, trüben Augen, die zitternden, verschrumpften Lippen, über denen immer ein Streifchen Rosa auftauchte, und hinter denen man immer das scheußliche schwärzliche Zahnfleisch sah! Wer ganz ist – ein Mensch, dessen Körper und Seele eins sind – so wie es die Natur seiner Jahre mit sich bringt – der kann sich nicht vorstellen, was dies teuflische Gefangensein für mich bedeutete! Jung sein und voll von Wünschen und voll von Energie der Jugend – – Und dabei gefangen und bald darauf zermalmt in dieser wankenden Ruine von einem Menschen ...!
Aber ich verliere den Faden meiner Erzählung ...
Eine Zeitlang muß ich geradezu betäubt gewesen sein über die Veränderung, die über mich hereingebrochen war. Der Tag schien hell, als ich mich endlich so weit zusammenraffte, um denken zu können. Ich war – auf irgendeine unerklärliche Art – verwandelt. Obschon – wie das – wenn nicht Hexerei im Spiel war – hatte zugehen können das wußte ich nicht. Und während ich darüber nachdachte, ward mir das teuflische Genie Elveshams klar. Es kam mir ganz selbstverständlich vor: so wie ich in seinem Körper steckte, so war er jetzt Herr des meinen, das heißt, meiner Kraft, meiner Zukunft. Aber wie das beweisen? Dann – als ich weiter darüber nachdachte, erschien mir selber das alles so unglaublich, und meine Gedanken wirbelten so durcheinander, daß ich mich selber kneifen, meine zahnlosen Gaumen befühlen, mich im Spiegel betrachten, die Dinge um mich berühren mußte, eh' ich wieder den Tatsachen nüchtern gegenüberstand. War alles Leben Halluzination? War ich wirklich Elvesham? Und Elvesham ich? Hatte ich einfach einmal nachts von Eden geträumt? Existierte überhaupt ein Eden? Aber – wenn ich Elvesham war, so müßte ich mich doch am nächsten Morgen darauf besinnen, wo ich war, – auf den Namen der Stadt, in der ich lebte – auf das, was geschehen war, eh' ich anfing zu träumen ... Ich kämpfte mit meinen Gedanken. Ich rief mir die seltsame Zweiheit meiner nächtlichen Erinnerungen zurück. Aber mein Geist war jetzt ganz klar. Auch nicht die Spur einer Erinnerung außer der aus meinen Edentagen wollte noch in mir aufsteigen.
»Es ist einfach zum Verrücktwerden!« rief ich in meiner dünnen Greisenstimme. Ich stolperte auf vom Bett, schleppte meine schwächlichen, bleiernen Glieder zum Waschtisch und steckte mein graues Haupt in eine Waschschüssel voll kalten Wassers. Dann – während ich mich abtrocknete, versuchte ich es aufs neue ... Es half nichts. Ich fühlte – – es war ganz fraglos: Ich war Eden, nicht Elvesham! Aber Eden in Elveshams Körper!
Hätte ich in irgendeinem andern Jahrhundert gelebt – ich hätte eben mein Schicksal auf mich genommen und mich als Verhexten betrachtet. Aber in unsern skeptischen Tagen gelten Wunder nicht mehr. Es war einfach ein psychologischer Trick. Und was ein Mittel und ein festes Anstarren angerichtet hatten, das konnte irgendein anderes Mittel und ein anderes festes Anstarren oder irgendeine derartige Behandlung auch wieder zurechtbringen. Es war ja nicht das erstemal, daß ein Mensch die Erinnerung verlor. Aber Erinnerungen vertauschen – verwechseln, wie man Regenschirme verwechselt – –! Ich mußte lachen. Ach! es war kein gesundes Lachen! Es war ein greisenhaft-winselndes Gekicher. Ich hatte auf einmal die Vorstellung, wie der alte Elvesham mich auslachte, und ein Taumel kleinlichen Zorns, wie ich ihn sonst gar nicht kannte, überfiel mich plötzlich. Ich fing hastig an, mir die Kleidungsstücke anzuziehen, die überall auf dem Boden herumlagen, und erst als ich angezogen war, merkte ich, daß ich im Gesellschaftsanzug war. Ich öffnete den Schrank und fand darin einige Straßenanzüge, ein paar karierte Hosen und einen altmodischen Schlafrock. Die letzteren Stücke zog ich an, stülpte ein ehrwürdiges Hauskäppchen auf mein Haupt und wankte – ein bißchen hustend von der Anstrengung – auf den Korridor hinaus.
Es war ungefähr dreiviertel auf sechs; die Läden waren noch alle geschlossen; das Haus war ganz still. Es war ein geräumiger Flur, eine breite Treppe mit üppigem Läufer führte in die dunkle Tiefe der unteren Halle; und durch eine halbgeöffnete Tür gerade vor mir erblickte ich ein Schreibpult, einen drehbaren Bücherständer, den Rücken eines Schreibsessels und Reihen auf Reihen von gebundenen Büchern ...
»Mein Arbeitszimmer!« murmelte ich und ging über den Flur. Dann – beim Klang meiner Stimme – durchzuckte mich ein Gedanke. Ich ging zurück ins Schlafzimmer und schob mein Gebiß in den Mund. Leicht und gewohnheitsmäßig schlüpfte es an seinen Platz. »So ist's besser!« sagte ich, kauend und fletschend, und kehrte zum Arbeitszimmer zurück.
Die Schiebladen des Schreibtischs waren verschlossen. Auch der Pultdeckel war geschlossen. Nirgends bemerkte ich etwas von Schlüsseln; und auch in meinen Hosentaschen waren sie nicht. Ich stolperte wieder in mein Schlafzimmer, suchte in meinem Gesellschaftsanzug nach und überhaupt in allen Kleidungsstücken, deren ich habhaft werden konnte. Ich war voller Eifer; man hätte glauben können, Einbrecher hätten in meinem Zimmer gehaust, als ich endlich fertig war. Nicht nur, daß nirgends Schlüssel waren – – aber auch kein Stück Geld – keinen Fetzen Papier fand ich – – mit Ausnahme der Quittung vom vorhergehenden Abend.
Eine seltsame Müdigkeit überfiel mich plötzlich. Ich setzte mich und blickte starr auf das Kleiderzeug, das herumlag – hier – dort – mit umgedrehten Taschen. Von Sekunde zu Sekunde ward mir mehr und mehr klar, wie klug mein Feind seine Minen gelegt hatte, begann ich mehr und mehr einzusehen, wie hoffnungslos meine Lage war. Mit einer Kraftanstrengung erhob ich mich wieder und humpelte in das Arbeitszimmer zurück.
Auf der Treppe öffnete eben ein Hausmädchen die Läden. Sie sah mich starr an ... Ich glaube, wegen des Ausdrucks auf meinem Gesicht ... Ich machte die Tür meines Arbeitszimmers hinter mir zu, ergriff einen Feuerhaken und hieb damit auf das Schreibpult ein. Und so haben sie mich gefunden. Der Deckel des Pults war zersplittert, das Schloß zertrümmert – die Briefe aus den Fächern gerissen und übers ganze Zimmer verstreut. In meiner senilen Wut hatte ich die Federn und all derartiges Schreibmaterial im Zimmer herumgeschleudert und die Tinte umgeworfen. Eine große Vase auf dem Kaminsims war auch zerbrochen – ich weiß nicht wie. Ich fand nirgends ein Scheckbuch – nirgends Geld – nirgends irgendwelche Anhaltspunkte, die mir zur Wiedererlangung meines eigenen Ich hätten dienen können. Wie ein Verrückter hämmerte ich auf die Schiebladen los, als der Hausdiener, gefolgt von zwei Hausmädchen, eintrat.
Das – in aller Einfachheit – ist die Geschichte meiner Verwandlung. Niemand schenkt meinen verzweifelten Versicherungen Glauben. Ich werde als Geistesgestörter behandelt; während ich dies niederschreibe, überwacht man mich. Aber ich bin geistig gesund – vollkommen gesund. – Und zum Beweis hab' ich diese Geschichte niedergeschrieben, genau so, wie alles sich zugetragen hat. Ich wende mich an den Leser: Ist irgendwo auch nur eine Spur von Verrücktheit in Stil oder Methode der Geschichte, die er da gelesen hat? Ich bin ein junger Mann – der in den Körper eines alten Mannes eingeschlossen ist. Aber diese einfache Tatsache ist für jedermann unverständlich. Natürlich werd' ich allen, die mir nicht glauben, verrückt vorkommen; natürlich kenn' ich die Namen meiner Sekretäre, der Ärzte, die mich besuchen, meiner Dienerschaft, der Nachbarn, der Stadt (wo sie auch liegen mag) in der ich jetzt lebe, nicht. Natürlich verirre ich mich in meinem eigenen Haus und habe Unannehmlichkeiten aller Arten. Natürlich frage ich die seltsamsten Fragen. Natürlich wein' ich oder schrei' ich und habe Anfälle von Verzweiflung. Ich habe kein Geld und kein Scheckbuch. Die Bank erkennt meine Unterschrift nicht an; ich vermute, dank der schwachen Muskeln, die ich jetzt habe, ist meine Handschrift noch die Edens. Die Menschen wollen mich nicht selber nach der