Hamanyalas – Weisheiten des leichten Lebens. Ilona Friederici
reichte mir die Bücher. »Ich habe sie in der Bücherei ausgeliehen. Du kannst sie nach dem Lesen zusammen mit den anderen dort wieder abgeben. Ich muss nun weiter, liebe Ilona, ich werde von einer Freundin erwartet. Viel Spaß beim Lesen!« Mit diesen Worten ging sie in Richtung Parkausgang.
Zunächst etwas sprachlos, schaute ich ihr hinterher, aber dann klemmte ich mir die Bücher unter den Arm, setzte mich unter einen großen Baum und fing an zu lesen.
Das erste Buch erzählte die Geschichte von einem armen kleinen Jungen in Afrika, der schon früh auf dem Feld arbeiten musste und deshalb sehr oft nicht zur Schule gehen konnte. Das zweite Buch war von Mark Twain und das dritte von Christoph Kolumbus.
Ich verschlang die Bücher regelrecht, konnte nicht aufhören zu lesen. Sie faszinierten mich und ich gewann mit meinen nicht mal siebzehn Jahren einen anderen Blick auf das Leben und auf mein eigenes Schicksal. Der Gedanke an die Talbrücke kam mir nur noch ein paarmal und war schließlich gänzlich verschwunden. Diese Menschen, von denen ich in den Büchern las, hatten ebenfalls schwere Schicksalsschläge hinnehmen müssen und hatten damit so bewundernswert gelebt oder leben zum Teil noch immer und wurden auf ihre Weise zu großen Vorbildern für mich.
Nach ein paar Wochen zog ich zu meiner Tante, die sich wirklich liebevoll um mich und auch um meine Trauer kümmerte. Das veränderte mein Leben sehr, aber ich spürte die Liebe, die sie mir entgegenbrachte.
Immer wieder hielt ich in den Wochen, Monaten und Jahren Ausschau nach dieser besonderen Frau. Der Frau, die mir gezeigt hatte, dass kein Schicksal so groß ist, dass es sich lohnt, von der Brücke zu springen. So oft dachte ich in den folgenden Jahren an Samira, sah sie aber nicht wieder.
NICHTS IST MEHR, WIE ES EINMAL WAR
Noch im Halbschlaf hörte Leni den Radiowecker angehen. Sie spielten »Keine Zeit« von Tim Bendzko. Ja, ich würde jetzt auch am liebsten im Bett liegen bleiben, wie der Tim es singt, dachte sie kurz, wusste aber sofort, dass das nicht möglich war. Ihr Blick ging nach links, zur anderen Betthälfte. Sie war leer. Sofort kamen die Erinnerungen an den vergangenen Abend. Ihr Mann war sehr spät nach Hause gekommen und sie hatte sofort gespürt, dass etwas nicht stimmte. Und so war es auch gewesen. Sie hatte noch sehr lange wach gelegen, vielleicht gerade mal zwei Stunden geschlafen.
Mit hämmerndem Kopf lag sie nun im Bett und der letzte Abend lief wie ein Film noch einmal vor ihrem geistigen Auge ab. In ihrem Inneren klangen die Worte ihres Mannes nach: Er habe sich in eine andere Frau verliebt und wolle demnächst ausziehen. Wie betäubt und geschockt hatte sie vor ihm gesessen, zunächst unfähig, irgendetwas zu sagen.
Jetzt schaute sie noch einmal auf die andere Bettseite und ihr war klar, es war kein Traum. Es war wirklich passiert.
Wie in Trance stand sie nun langsam auf. Die Kinder mussten ja geweckt und das Frühstück vorbereitet werden. Als sie am Wohnzimmer vorbeikam, sah sie, dass ihr Mann, der die Nacht auf dem Sofa verbracht hatte, schon aufgestanden war. Wie benebelt schlich sie in Richtung Küche. Seine Schuhe standen nicht mehr, wie um diese Tageszeit üblich, im Flur vor der Eingangstür. Er war also schon los zur Arbeit. Sie fühlte sich gerädert, schlapp und irgendwie ausgelaugt, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Doch Leni musste sich um die Kinder kümmern. Wie automatisiert ging sie zunächst ins Bad, um sich, so gut es ging, die verheulten Augen zu überschminken, bevor sie zu den Kindern hochging und sie liebevoll weckte, wie sie es jeden Morgen tat. Sie gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen und so zu tun, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Dienstagmorgen. Aber das war es nicht. Tief in ihrem Inneren wusste sie genau, dass ab heute nichts mehr sein würde, wie es einmal gewesen war.
Nachdem sie mit den Kindern gefrühstückt hatte – oder besser gesagt mangels Appetit nur den Kindern das Frühstück zubereitet hatte und sie nun auf dem Weg zur Schule waren –, sackte Leni auf dem Küchenstuhl zusammen. Die Tränen rannen ihr nur so übers Gesicht. Verzweiflung und Ratlosigkeit machten sich in ihr breit. Was habe ich falsch gemacht?, hämmerte es immer wieder durch ihren Kopf. Ein Gedanke nach dem anderen beschäftigte sie. Was ist passiert? Wie konnte das geschehen? Fragen über Fragen, auf die sie keine Antwort wusste.
Nach einer ganzen Weile wurde ihr klar, dass sie hier nicht sitzen bleiben konnte. Sie konnte nicht, wie Tim Bendzko es gesungen hatte, »einfach frei machen«. Sie hatte eine Arbeit und es warteten Verpflichtungen auf sie, die sie einhalten musste.
Kurz überlegte sie, ob sie ihren Mann anrufen sollte, stieg dann aber doch die Holztreppe hinauf, um zu duschen. Eine gefühlte Ewigkeit ließ sie das heiße Wasser auf ihren Körper prasseln. Versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Aber das Bauchkneifen ging genauso wenig weg wie die vielen quälenden Fragen. Besonders die Frage danach, was sie getan, ja was sie falsch gemacht hatte. Am vorherigen Abend hatte sie ihrem Mann diese Fragen bestimmt acht Mal gestellt, aber er hatte immer wieder beteuert: »Nichts, du hast nichts falsch gemacht. Es ist einfach passiert.«
Einfach passiert, dachte sie. »So was passiert doch nicht einfach!«, sprach sie ihren Gedanken nun laut aus.
In Gedanken versunken begann sie sich abzutrocknen und das rot geschwollene Gesicht und die Augen ein weiteres Mal, so gut es ging, zu schminken. Ja, sie konnte ein wenig von ihrer Traurigkeit kaschieren, aber wer genau hinsah, erkannte die dicken Augenringe. Doch es nützte nichts, sie musste sich langsam fertig machen. Im Büro erwartete man sie, und sie wusste, dass dort viel zu tun war.
AUF DEM HÜGEL
Behutsam lenkte Leni ihren Kleinwagen aus der Garage und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Bloß kein Aufsehen erregen, nicht dass noch jemand sie fragte, wie es ihr gehe. Das wäre jetzt die Hölle für sie.
Während sie die Auffahrt hinunterrollte, kamen die Erinnerungen hoch. An die Zeit, als sie zusammen mit ihrem Mann das Haus geplant und gebaut hatte. An den Tag, an dem sie gemeinsam den Vorgarten gestaltet hatten. Wieder kamen ihr die Tränen. Leni stoppte kurz, wischte sie ab und fuhr dann gleich wieder los.
Wie automatisiert bog sie links auf die Straße ab und nahm den gewohnten Weg zur Arbeit – zunächst durch die Stadt und dann über eine Landstraße, die in den benachbarten Ort führte.
Ein paar Kilometer hinter der Ortsausfahrt registrierte sie plötzlich eine Weggabelung. Irritiert überlegte sie: Den Weg kenne ich ja noch gar nicht. Warum ist er mir bisher nie aufgefallen? Sie sah sich um, schaute in alle Richtungen, um sich zu vergewissern, dass sie sich auf der richtigen Straße befand. Ja, sie war auf der Straße, die sie seit mehr als sechs Jahren jeden Morgen und jeden Mittag auf dem Weg zur Arbeit und zurück befuhr. Sie wohnte schon so lange in dieser Gegend, aber diese Abzweigung war ihr noch nie aufgefallen. Verwirrt bremste sie vor der Gabelung leicht ab. Dann glitt ihr Blick zur Uhr.
Sie hatte, wie jeden Morgen, mehr als genug Zeit. Leni war immer gern rechtzeitig an ihrem Arbeitsplatz. Niemand sollte ihr je nachsagen können, dass sie auch nur ein einziges Mal zu spät gekommen sei. Es könnte ja unterwegs auch mal etwas passieren, was sie aufhalten würde.
Ohne groß über ihre Entscheidung nachzudenken, lenkte sie ihren Wagen an der Gabelung nach links, um herauszufinden, wohin der Weg führte. Kopfschüttelnd, weil sie sich absolut nicht an diesen Weg erinnerte, fuhr sie weiter. Die Straße wurde nach kurzer Zeit etwas schmaler und führte leicht bergauf an einem großen Rapsfeld und einer mit verschiedenen Blumen übersäten Wiese vorbei.
Schon nach kurzer Zeit bog der Weg noch einmal links ab und schlängelte sich den Hügel hinauf. Oben angekommen, befand sich auf der rechten Seite eine kleine Parkbucht. Leni entdeckte eine Holzbank sowie einen kleinen Grillplatz. Kurz entschlossen hielt sie den Wagen an, stieg aus und war verblüfft, was für einen schönen Ausblick man von hier über das Tal hatte. Warum hatte sie das nicht gewusst? Warum war sie bisher noch nie hier gewesen?
Der