Hamanyalas – Weisheiten des leichten Lebens. Ilona Friederici

Hamanyalas – Weisheiten des leichten Lebens - Ilona Friederici


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Parkbucht taten ihr gut. Sie atmete zwei Mal ganz tief durch.

      Plötzlich sagte eine Stimme hinter ihr: »Guten Morgen, genießt du auch eine kleine Auszeit?«

      Als Leni sich umdrehte, sah sie auf der Holzbank eine alte Frau sitzen. Wo kommt die denn auf einmal her?, fragte sie sich. Eben war die Bank doch noch leer gewesen, als Leni ihr Auto angehalten hatte. Aber das Lächeln der Frau war so freundlich und einladend, dass sie nicht unhöflich sein wollte. »Guten Morgen«, erwiderte sie. »Nein, ich weiß auch nicht, eigentlich bin ich auf dem Weg zur Arbeit und war gerade über mich selbst erstaunt, dass ich diesen schönen Platz gar nicht kenne. Und das, obwohl ich schon so lange in dieser Gegend lebe.« Sie sog noch einmal die frische Luft in sich ein. »Sie sind nicht von hier, oder?«, platzte es plötzlich aus ihr heraus, denn sie kannte die Frau nicht. Und sie kannte sonst fast jeden hier in der Umgebung, zumindest vom Sehen. Sie lebten ja schließlich auf dem Land. Dann registrierte sie neben der Frau einen auffälligen roten Rucksack, der irgendwie so gar nicht zu ihr passte, weil sie eher unauffällig gekleidet war. Leni ertappte sich dabei, für einen kleinen Moment in sich hineinzuschmunzeln.

      »Ich komme öfter mal hierher, wenn dieser Ort mich braucht«, sagte die alte Frau. »Übrigens, ich heiße Samira.« Sie streckte Leni ihre rechte Hand entgegen und forderte sie mit einer einladenden Geste auf, sich neben sie zu setzen.

      »Eh, oh, ja, ich bin Leni«, stotterte Leni und dachte: Was für ein komischer Tag heute! Sie nahm neben der Unbekannten Platz. »Ich weiß«, hörte sie diese sagen. Leni stutzte. Woher kennt sie mich?, überlegte sie. Sie war sich sicher, die alte Frau noch nie in ihrem Leben gesehen zu haben.

      Dann schwiegen beide eine ganze Weile, während Leni die Augen schloss und die wärmende Sonne in ihrem Gesicht spürte. Plötzlich tauchte das Gesicht ihres Mannes vor ihrem geistigen Auge auf. Sie schluckte, und ohne das Gefühl von Traurigkeit aufhalten zu können, rannen ihr Tränen die Wange herunter. Eilig versuchte sie, sich zusammenzureißen, und wischte die Tränen mit einem Taschentuch fort.

      »Das Leben ist nicht immer einfach, Leni, richtig?«

      Leni horchte auf und wandte ihren Blick zu Samira. Obwohl sie diese Frau noch nie zuvor hier im Ort gesehen hatte, war sie ihr irgendwie vertraut. Sie konnte es sich nicht erklären, aber die grau–haarige Alte, deren Haut etwas dunkler war als ihre eigene, wirkte aufrichtig und vertrauenswürdig – warum auch immer. Leni nickte. »Und heute ist ein besonders schlimmer Tag«, rutschte es ihr heraus.

      Samira blickte sie mitfühlend an, erwiderte aber zunächst nichts darauf. Sie lächelte ihr einfach nur zu.

      Dann saßen die zwei wieder eine Weile still nebeneinander. Leni versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, damit die Frau neben ihr nichts davon bemerkte. Aber es arbeitete in ihrem Kopf. Die vielen Fragen, die sie schon am vorigen Abend nicht losgelassen hatten, flogen nur so von links nach rechts und von rechts nach links: Niemandem kann ich es recht machen! Ich tue doch alles, was man von mir erwartet. Ich helfe jedem. Aber offenbar bin ich nicht gut genug. Was habe ich nur falsch gemacht? Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass ihr Mann ihr das für sie Schlimmste – eine neue Liebe und die Trennung – offenbart hatte.

      »Man kann es nicht allen Menschen recht machen!«, sagte plötzlich Samira neben ihr.

      Ups, habe ich meine Gedanken gerade laut ausgesprochen?, schoss es Leni durch den Kopf. Nein, das hatte sie nicht. Aber warum hatte die alte Frau genau diese Worte gesagt? Irritiert schüttelte Leni den Kopf. Dieser Tag erschien ihr wirklich unheimlich. Sie hob ihren Blick, schaute in die mitfühlend wirkenden Augen der Grauhaarigen und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit erwiderte sie: »Das möchte man aber doch!«

      Samira lächelte erneut. »Ich würde gern einen kleinen Spaziergang über den Hügel machen. Hast du Lust, eine alte Frau wie mich zu begleiten? Ich könnte Gesellschaft gut gebrauchen.« Sie erhob sich von der Bank, setzte sich den roten Rucksack auf und deutete mit einer kurzen Bewegung an, dass sie losgehen wolle. Der Rucksack – er war tatsächlich knallrot – auf dem Rücken der Frau, das sah schon irgendwie lustig aus, dachte Leni. Als wäre sie ferngelenkt, stand sie ebenfalls auf. »Ja, gerne«, hörte sie sich sagen.

      Einige Zeit folgten die beiden Frauen schweigend dem Pfad über den Hügel, bis sie zu einem angrenzenden kleinen Waldstück kamen. Warum kenne ich diesen Weg eigentlich nicht? Diese Frage kam Leni immer wieder in den Sinn. Genauso oft wurde die Vergangenheit gegenwärtig und sie dachte zurück an den vorangegangenen Abend und all die Jahre davor, die sie zusammen mit ihrem Mann verbracht hatte.

      Aber dann traute sie sich doch auszusprechen, was ihr auf der Seele brannte: »Woher kennen Sie mich eigentlich?«

      Ein Lächeln huschte über das Gesicht der alten Frau. »Ich kenne deinen Namen, ja. Doch wichtiger ist, wer du bist. Ich darf doch du sagen, oder?«

      Jetzt war Leni noch mehr verwirrt. »Eh, ja, ja klar«, stotterte sie. »Das dürfen Sie, nein darfst du …« Sie zwang sich zur Ruhe. »Mir kommt das gerade alles so seltsam vor. Wer sind Sie?«

      Obwohl Samira schmunzelte, fühlte Leni sich nicht ausgelacht. Im Gegenteil, sie spürte einen offenen, freundlichen Blick auf sich ruhen.

      »Rede doch einfach ganz normal mit mir«, sagte Samira. »Dazu gehört auch das Du. Ich bin eine Freundin.«

      »Trotzdem weiß ich nicht, wer Sie, eh, wer du bist und woher du mich kennst.«

      Wieder lächelte Samira, und Leni konnte nicht anders, als zurückzulächeln.

      »Ich sagte doch, ich bin Samira.«

      Jetzt wurde Leni ein wenig verlegen. Was war das gerade für ein Gefühl, das sie überkam?

      »Du fühlst dich unwohl?«, fragte Samira.

      »Nein, nicht wirklich unwohl, eher verwirrt und seltsam. Das hier ist so ungewohnt. Irgendwas ist mit mir nicht in Ordnung. Erst das alles mit meinem Mann, und nun befinde ich mich hier mit einer fremden Frau an einem Ort, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Und das, obwohl ich schon so viele Jahre hier lebe.«

      Samira lachte herzlich.

      Bisher hatte Leni angenommen, die Frau sei im Rentenalter, aber jetzt, als sie lachte, schien sie ihr so jung und frisch, fast jugendlich.

      »Wer bist du, Leni?«, fragte die Grauhaarige aus dem Lachen heraus.

      Obwohl Leni die Frage völlig verblüffte, klang sie nicht aufdringlich oder plump. Die Art, wie Samira ihr dabei fest in die Augen schaute, war äußerst angenehm und fühlte sich so vertraut an. Im Geiste wiederholte Leni die Frage der Unbekannten: Wer bist du, Leni?

      Ja, wer war sie eigentlich? Das war eine gute Frage.

      Schweigend gingen sie eine ganze Weile weiter den Weg entlang. Die Stille war nicht unangenehm, sondern wirkte entspannend auf Leni. Samira strahlte eine ungewohnte Ruhe aus, die ihr guttat. Die Sonne schien durch Bäume und Büsche und Leni sog die frische Waldluft in sich ein. Sie fühlte, dass sie innerlich immer ruhiger wurde. Was lebe ich doch in einer schönen Gegend, dachte sie, als ihre Gedanken durch die Worte von Samira unterbrochen wurden.

      »Viele Menschen kennen die Vorlieben, Wünsche und Träume ihrer Familie, die der Kinder, die der Eltern, die des Partners und vielleicht auch die der Freunde. Sie wissen, was deren Leidenschaft ist, was sie mögen, was sie lieben. Aber wenn man sie fragt, wer sie selbst sind, dann kennen sie ganz oft die Antwort nicht.«

      Schweigen folgte, doch nun kam Leni ins Grübeln. Ja, wer war sie eigentlich? Für ihre Kinder war sie Mutter, für ihre Eltern, die sie oft um Hilfe und Unterstützung baten, war sie die Tochter. Sie war Ehefrau und Elternvertreterin in den Klassen ihrer Kinder. Das war es, was ihr im ersten Moment einfiel.

      Leise sprach Samira weiter. »Es geht nicht immer nur um die Rollen, die man im Leben einnimmt. Es geht vielmehr darum, wer man selbst ist. Du selbst. Was macht dich aus? Was packt deine Leidenschaft? Was sind deine inneren Sehnsüchte?«

      Wieder erschrak Leni. Woher weiß die Alte, was ich gedacht


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