Leo - Wismeldas Rache. Eva Haring-Kappel

Leo - Wismeldas Rache - Eva Haring-Kappel


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immer weiteren Schnee herabschickte. Der Großvater war viele Stunden mit Schneeschaufeln beschäftigt gewesen, um Wege zum Stall und zum Holzschuppen freizumachen, und ich half ihm dabei. Die Landschaft wirkte plötzlich fremd und die Welt schien auf einmal so klein. Der Schnee verschluckte alle Geräusche und es war alles ganz still und weiß.

      In der Küche werkelte die Großmutter am Herd und legte Scheit um Scheit Holz nach. Wenn der Großvater und ich durchgefroren ins Haus kamen, brannte ein lustiges Feuer im Ofen, Tee und Kekse standen für uns bereit und es war wunderbar gemütlich, am großen Küchentisch zu sitzen, den heißen Tee zu schlürfen, immer wieder einen Keks zu zerknabbern und dabei dem Schneetreiben vor dem Fenster zuzuschauen.

      Meine Freunde kamen vorbei, wir spielten Karten oder überlegten uns, was wir in den Weihnachtsferien unternehmen könnten. In der Schule standen zwar bis dahin noch zwei Schularbeiten und einige Tests an, aber ich hatte mich mittlerweile eingewöhnt und die Lehrer hatten erkannt, dass ich zwar kein Genie war, mir aber Mühe gab, und so drohte mir keine große Gefahr in irgendeinem Fach. Auch Leo gab sich wieder mehr Mühe und hatte aufgehört, Herrn Weixelbaum zu ärgern. Franz laborierte schon länger an einer Angina und fehlte daher in der Schule und ohne ihn war Jo recht harmlos. Es war eine richtig friedliche, schöne Zeit, und wie es manchmal so ist, vergisst man über den guten Tagen gerne, dass es auch schlechte geben kann.

      Eines Abends klingelte es. Agnes stand im Schneetreiben vor der Haustür. Sie war ziemlich aufgeregt. Leonore wäre am frühen Nachmittag gleich nach der Schule – sie hätte nur noch eine Kleinigkeit gegessen – mit Prinz Edmund zu einem Spaziergang aufgebrochen und seither nicht mehr zurückgekehrt. Günther habe sich schon mit Bella auf die Suche gemacht, wäre aber nach einer Stunde erschöpft nach Hause zurückgekehrt, weil das Schneetreiben immer stärker geworden sei und er nicht gewusst habe, wo er noch suchen könnte. Nun war Agnes gekommen, um zu fragen, ob Leo bei mir wäre oder ob ich etwas wüsste, ob sie vielleicht uns Freunden erzählt hätte, wo sie hinwollte und was sie vorhätte.

      Mir hatte Leo natürlich nichts erzählt, sie war auch in der Schule so wie immer gewesen. Als ich daraufhin Georg, Wendel, Anna und Benni jeweils eine Nachricht schickte, in der ich sie fragte, ob sie vielleicht eine Ahnung hätten, wo Leo stecken könnte, bestätigten sie mir, dass es auch für sie ein Rätsel sei und sie sich nicht denken könnten, wo unsere Freundin abgeblieben wäre außer ...

      Der Rosenbusch, schrieb Anna.

      Das ist unmöglich, der ist sicher unter einem Meter Schnee begraben, antwortete ich.

      Anna gab zu bedenken: Vergiss nicht, es ist der Eingang zu einer anderen Welt, wer weiß, ob er den Naturgesetzen unserer Welt gehorcht.

      Das war natürlich ein Argument, da hatte Anna recht. Wer konnte schon wissen, wie das wirklich war mit diesem Rosenbusch, der in den vergangenen Sommerferien, als Leo zum Menschenkind geworden war, das Tor zum Elfenreich darstellte. Ohnehin war die Geschichte um Leo immer schon ein wenig unheimlich gewesen. Ich erinnerte mich mit Schrecken daran.

      Ich trat ans Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus. Das Schneegestöber hielt an. Man sah keinen Meter weit. Die Welt wirkte winzig klein.

      Mir fiel jener Abend ein, nachdem wir zuvor Leo das erste Mal im Wald getroffen hatten. Als ich vor dem Schlafengehen aus meinem Fenster geguckt hatte, stand sie mit Prinz Edmund, der damals noch ein namenloses Tier gewesen war, am Waldrand. Dieses Bild hatte mir damals eine ziemliche Angst eingejagt. Jetzt machte ich mir allerdings Sorgen um meine Freundin. Es war schrecklich kalt draußen und Leo war ein Mensch wie wir. Sie konnte sich erkälten und sehr krank werden, sie konnte gar erfrieren und sterben, hoffentlich hatte sie das nicht vergessen.

      Ich löschte das Licht und schlüpfte unter meine Decke. Es war warm und kuschelig, aber ich konnte trotzdem nicht einschlafen, weil mir einfiel, wie es im vergangenen Sommer gewesen war, als Leo, kurz nachdem wir sie im Wald entdeckt hatten, ganz plötzlich nach einem Unwetter verschwunden gewesen war, und wie schwierig es gewesen war, sie wiederzufinden und schließlich zu retten. Die Vorstellung, dass sie wieder allein da draußen im Wald sein könnte, ja, dass sie womöglich wieder für längere Zeit oder gar für immer verschwunden sein könnte, machte mir große Angst.

      Dann, als ich schon fast eingeschlafen war, kam eine SMS von Anna.

      Agnes war gerade bei meinen Eltern. Leo und Prinz Edmund sind zurück. J Durchgefroren, aber gesund. Prinz hat sich die Pfote verletzt, darum hat es so lange gedauert.

      Ich war unheimlich froh und erleichtert über diese Nachricht. Waren sie doch bei dem Rosenbusch gewesen oder wo hatte sich der Prinz die Pfote verletzt? Jedenfalls gut, dass sie wieder da waren. Beruhigt drehte ich mich auf die Seite und schlief sofort ein.

      Aber mein Unterbewusstsein, das ja aus den Ereignissen, die uns sehr bewegen, unsere Träume webt, war wohl noch nicht ganz beruhigt, denn ich hatte schlimme Albträume. Ich wanderte wie in den vergangenen Sommerferien durch die unterirdischen Gänge, die unsere Welt mit der Elfenwelt verbinden. Weil ich meine Taschenlampe zu Hause vergessen hatte, war es sehr dunkel und ich konnte fast nichts sehen. Irgendwo in der Ferne entdeckte ich ein schwaches Licht. Ich folgte ihm und gelangte zu einer Höhle. Darin stand ein altmodischer Schreibtisch, auf dem eine Kerze brannte, daneben lag ein Federkiel und ein offenes Tintenfass stand ebenfalls da. Der Tisch war übersät mit Notenblättern und es wirkte auf mich, als wäre der Hausherr mal kurz vor die Tür gegangen, denn die Höhle war leer.

      Aber ich hatte keine Zeit, groß darüber nachzudenken, denn ein schrecklich lautes Geschrei und Gebrüll ließ mich aufhorchen. Es kam von weiter weg, schien aber näher zu kommen. Bestimmt war das Morrmor, das Schoßtier der Hexe Wismelda, die da unten in der Zwischenwelt zusammen mit ihren quergezauberten Tierungeheuern ihr Unwesen trieb. Ich hörte das Schaben von großen, krallenbewehrten Pfoten, die sich langsam, aber stetig in meine Richtung bewegten. Ich erinnerte mich an den Schatten von Morrmor, wie er sich damals im Sommer an der Höhlenwand abgezeichnet hatte. Die spitzen, langen Zähne, der Feueratem.

      Während ich noch überlegte, wo ich mich verstecken sollte, wachte ich auf. Mein Herz klopfte wild und ich brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass ich sicher in meinem Bett lag und alles nur ein Traum gewesen war. Trotzdem konnte ich nicht gleich wieder einschlafen und rollte mich von einer Seite auf die andere. War es wirklich nur ein böser Traum gewesen oder ging nun alles wieder von vorne los? War tatsächlich etwas im Elfenreich geschehen, das Leos Eingreifen nötig machte? War sie deshalb so unruhig und abwesend und schwang geheimnisvolle Reden? Brauchte sie wieder unsere Hilfe?

      Ich sprang aus meinem Bett und rannte ans Fenster, so als könnte ich draußen in der Dunkelheit eine Antwort finden. Ich starrte in den graphitgrauen Himmel, aus dem es unablässig schneite und schneite. Ich blickte zum Waldrand und versuchte, mit meinen Augen die Dunkelheit und das Schneegestöber zu durchdringen. Nichts. Gar nichts.

      Und dann ganz plötzlich sah ich ihn. Er stand ganz still und stumm da, in seinem rotbraunen, langen Mantel, der sich recht deutlich gegen das Weiß der Winterlandschaft abzeichnete. Er musste wohl schon längere Zeit so verharrt haben, denn auf seinem Hut lag hoch aufgetürmt der Schnee, sodass er gegen den weißen Hintergrund kaum sichtbar war. Es war der Leibarzt von Leo und ihrer Familie, dieser sonderbare Doktor Worschody. Da war ich mir ganz sicher.

      Ich hatte das Gefühl, er blickte zu meinem Fenster hoch, und so hob ich meine Hand und winkte zögerlich. Es dauerte einen Moment, dann schüttelte er sich heftig, sodass der Schnee von seinem Mantel stob, lüpfte seinen Hut, schüttelte auch diesen kräftig, setzte ihn wieder auf, fasste an die Hutkrempe, wie man es sonst nur aus Cowboyfilmen kennt, drehte sich um und stapfte in den Wald davon.

      War ich verrückt geworden? Gut, meine Fantasie ist ziemlich lebhaft, aber ich hatte ihn wirklich gesehen, dessen war ich mir ganz sicher. Ich rannte zu meinem Bett, sprang hinein, sodass es heftig quietschte und knarrte, und zog meine Decke bis zur Nasenspitze hinauf.

      ***

      Der Vollmond beschien den verschneiten Waldweg und sein sanftes Licht brachte den Schnee zum Glitzern und Leuchten. Rita hatte jedoch keine Augen für die Schönheit dieser Winternacht, ihr Fell war schlammverkrustet und klebte an ihrem Körper. Bei jedem Schritt


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