Leo - Wismeldas Rache. Eva Haring-Kappel

Leo - Wismeldas Rache - Eva Haring-Kappel


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Herbst war inzwischen eingekehrt und der alte Ahornbaum vor dem Fenster unseres Klassenzimmers hatte leuchtend gelbe, rote und braune Blätter bekommen, die im milden goldenen Licht der Herbstsonne ab und an langsam zu Boden segelten, nahm Herr Weixelbaum gerade römische Geschichte mit uns durch.

      „Leonore, wie ich sehe, interessiert dich das herbstliche Blätterspiel vor dem Fenster viel mehr als mein Unterricht. Du bist doch sonst auch immer so gut darin, mich über Details aus der Vergangenheit zu belehren, sodass ich oft schon dachte, du müsstest, um all das zu wissen, bereits einige Hundert Jahre alt sein.“ Er lachte kurz und trocken über seinen eigenen Witz. „Nun sag mir bitte, was weißt du über die frühen Siedlungen der Römer hier in der näheren Umgebung. Und nenne mir die bekannteste. Ich sprach übrigens in der letzten Stunde darüber, wenn du aufgepasst hast, wirst du dich daran erinnern.“ Leo wandte langsam ihren Kopf, es schien, als könnte sie sich nur schwer vom Anblick des alten Baumes vor dem Fenster lösen. Abwesend blickten ihre großen Augen in das immer ein wenig boshaft wirkende Gesicht des alten Lehrers.

      „Die Römer, schon wieder die Römer. Was habt ihr Menschen nur mit diesen Römern?“, murmelte sie mit belegter Stimme.

      Georg, der auf der anderen Seite neben Leo saß, machte mir hinter ihrem Rücken ein Zeichen, indem er seinen Zeigefinger vor seiner Stirn drehte, um mir zu signalisieren, er sei der Meinung, unsere Freundin wäre nun völlig verrückt geworden.

      „Ich mag sie nicht wirklich, diese Römer, sie waren trotz der Errungenschaften, die für die damalige Zeit sicher großartig waren, in vielem noch sehr rückständig und vor allem ihre Mordlust finde ich besonders abstoßend. Gladiatorenkämpfe, sage ich da nur. Meine Großmutter hat mir viel über ihre Brutalität erzählt. Einige Römer kannte sie persönlich, sie ist nach eurer Zeitrechnung am selben Tag geboren wie Gaius Julius Cäsar, nämlich am 13. Juli im Jahr 100 vor Christus. Die Geschichten über die alten Römer ... das weiß man doch alles. Gibt es keine interessanteren Themen für Ihren Unterricht, ich beginne mich wirklich zu langweilen“, teilte sie unserem Lehrer mit.

      Die Stille in der Klasse war nahezu unheimlich, Leo und Herr Weixelbaum hatten die volle Aufmerksamkeit aller. Der alte Lehrer schien zur Salzsäule erstarrt zu sein, er war, was wahrscheinlich in seiner Berufslaufbahn bisher noch nie passiert war, sprachlos. Er starrte Leo an, sie starrte zurück. Das schien eine kleine Ewigkeit zu dauern, bis, wie könnte es anders sein, Georg auf den Plan trat.

      „Na ja, langweilig finde ich den Unterricht von Herrn Weixelbaum nicht, aber die alten Römer sind wirklich ziemlich ...“ Weiter kam er nicht. Er hatte auf Risiko gespielt und die Rechnung ging scheinbar auf. Oder nicht?

      „Ist jetzt etwa die Diskussionsrunde über den Lehrstoff eröffnet? Hat vielleicht sonst noch jemand ein paar Vorschläge, wie ich meinen Unterricht für die Herrschaften abwechslungsreicher gestalten könnte? Bitte, ich höre.“

      Wendel meldete sich zum Erstaunen aller. „Bitte, ich ...“

      Nun richtete sich der geballte Zorn des Lehrers auf den armen Wendel. „Du? Du hast Verbesserungsvorschläge? Das kann ich mir denken, du passt ohnehin nie auf in meinem Unterricht. Du wirst ja auch von den anderen Kollegen liebevoll Traummännlein genannt, aber nicht mit mir. Das gibt ein Nicht genügend für dich und für alle anderen auch.“

      Die Pausenglocke schrillte und Herr Weixelbaum rauschte aus der Klasse.

      „Ich wollte ihn doch nur fragen, ob ich aufs Klo kann“, jammerte Wendel.

      „Dein Timing, das ist wieder typisch. Hast du keine Uhr? Sich in so einer Situation eine Minute vor dem Läuten zu melden ...“ Georg schüttelte den Kopf, er war richtig böse. Hastig rannte Wendel aus der Klasse.

      „Was ist denn mit dir los, Leo?“, fragte ich sie derweil verstört. Sie antwortete mir nicht, sondern blickte schon wieder traurig aus dem Fenster. „Ich mach mir Sorgen um sie“, raunte ich Georg zu.

      „Ich mach mir eher Sorgen um mich“, gab der laut zurück, „ein Nicht genügend, für das ich gar nix kann. Das ist zwar neu, aber hilft mir nicht wirklich weiter auf dem Weg zu meinem Schulabschluss.“

      „Der eh noch in weiter Ferne liegt“, stellte ich fest.

      „Na und? Ich bekomme zu Hause sicher wieder Ärger und das zieht dann diverse Verbote nach sich. Handyverbot, Computerverbot, Fernsehverbot. Das ist so ungerecht, und alles nur, weil ich meinen Mund nicht halten kann. Ich wollte eigentlich nur helfen.“ Missmutig stand Georg auf und verließ das Klassenzimmer.

      Benni, der meistens sehr wenig sagt, dafür aber umso mehr denkt, stand plötzlich neben Leo und sprach sie an. „Du hast Heimweh, das ist ganz klar. Magst du nicht mit uns darüber reden?“

      Leo sah ihn erstaunt an „Woher weißt du das?“, fragte sie, während bereits Tränen in ihren Augen schimmerten.

      „So schwer ist das jetzt auch wieder nicht zu erraten.“ Benni schaute sie ernst an. „Ich habe eine große Familie, es ist manchmal megaanstrengend – für meine Eltern, für meine Geschwister, für mich, für uns alle. Die viele Arbeit, das Geld, das ständig fehlt, alle müssen zusammenhelfen, damit der Alltag klappt. Aber ich könnte keinen einzigen Tag ohne sie leben und ich will es auch nicht.“

      Nun kullerten Leo die Tränen über die Wangen. „Ja, du hast recht, ich vermisse meine Familie so sehr, ich habe mir eure Welt ganz anders vorgestellt, ich dachte, alles wäre viel besser, spannender, schöner hier bei euch Menschen. Ich dachte, ich könnte ohne meine Familie auskommen, denn ihr seid für mich da, Agnes und Günther sind wie Eltern zu mir und Anna ist jetzt meine kleine Schwester, aber ich schaff es einfach nicht, ich kann nicht ...“ Damit vergrub sie ihr Gesicht in ihren Armen und schluchzte so herzzerreißend, dass wir gar nicht bemerkten, dass Franz wohl schon eine Weile hinter uns stand und uns belauschte.

      „Das ist der Beweis“, brüllte er plötzlich, „schon lange habe ich den Verdacht, dass mit der da etwas nicht stimmt.“

      Betreten schauten wir uns an, das war nun wirklich eine blöde Situation. Wir hatten gegen unsere sonstige Gewohnheit nicht aufgepasst und über Dinge geredet, die wir sonst nur in kleiner Runde besprachen.

      „Du bist gar keine blöde Ausländerin, nein, du bist noch was viel Schlimmeres, du bist womöglich gar kein richtiger Mensch.“ Franz war völlig außer sich ob der Begeisterung über diese Erkenntnis.

      Wieder einmal rettete die Glocke die Situation. Unser Mathelehrer stand schon in der Klasse und in diesem Fach konnte sich niemand ein negatives Auffallen oder eine schlechte Note leisten, Franz schon gar nicht.

      „Das hier ist noch nicht geklärt“, raunte er Leo zu. „Ich werde herausfinden, wer oder was du wirklich bist, und wenn es das Letzte ist, was ich auf dieser Welt mache“, flüsterte er theatralisch. Dann lief er zu seinem Platz.

      ***

      „Gevatter Dachs?“

      Die schnarrende Stimme der Ratte riss den alten Dachs aus seinen Gedanken, die Notenläufe und musikalischen Abfolgen seiner Komposition, die mit ihrem fulminanten Crescendo der Höhepunkt seines kompositorischen Schaffens hätten werden können, waren ausgelöscht. Nur ein unangenehmer Summton in seinem linken Ohr, wie er in letzter Zeit häufiger auftrat, war zurückgeblieben.

      Zornig starrte er dem Nachbarn entgegen. „Was soll die unerwünschte Störung?“, schimpfte er. „Ist es denn schon so weit? Ich bin noch gar nicht vorbereitet.“

      „Folg mir“, war die kurze Antwort, „du wirst es nicht bereuen.“

      *

      4. Kapitel

      Wir saßen gemeinsam im Pächterhäuschen von Agnes und Günther, die Leo nach ihrer Verwandlung bei sich aufgenommen hatten. Draußen pfiff ein kalter Herbststurm ums Haus und es begann schon, dämmrig zu werden. Drinnen in der Küche war es gemütlich und warm und ein Feuer knisterte im Ofen. Agnes hatte diese Krisensitzung, wie sie es nannte,


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