Sophienlust Staffel 14 – Familienroman. Elisabeth Swoboda
Anselm dazu getrieben habe, sich in dieser Weise auf Otmar zu stürzen. Sie sah sich um. Gott sei Dank, niemand aus Sophienlust hatte den Zwischenfall, der ihr wirklich peinlich war, bemerkt.
»Otmar! Was tust du hier? Wie kommst du hierher?«, fragte sie.
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, erwiderte er.
Anselm beobachtete die beiden Erwachsenen mit weit aufgerissenen Augen. Ihre Stimmen klangen so unfreundlich, dass er sich fürchtete.
»Frag mich nur. Ich habe nichts zu verbergen«, sagte Irene.»Ich komme jeden Tag hierher, um Anselm zu einem Spaziergang abzuholen.«
»Ja, Vati, das ist wahr«, bestätigte der Junge.
Irene war ihm dafür jedoch nicht dankbar, sondern warf ihm einen strafenden Blick zu. »Das ist doch nicht dein Vati«, meinte sie dabei.
»O ja!« Anselm ließ sich nicht beirren. »Du glaubst schon wieder, dass ich schwindle. Aber das stimmt nicht. Ich sage die Wahrheit, nicht wahr, Vati?«
Otmar brachte nichts weiter als einen krächzenden Ton heraus.
Irene blickte ihn daraufhin erstaunt an. Sein Gesichtsausdruck erschreckte sie. »Aber …, aber Anselm hat doch gar keinen Vater«, stotterte sie.
»Ich habe einen Vati. Er steht doch da vor dir.«
Irene sah von dem einen zum anderen und hatte dabei das Gefühl, sich in einem Albtraum zu befinden. Stand sie wirklich hier, mitten in Wildmoos, und erlebte, dass ein kleiner Junge, der nicht ihr Kind war, Otmar allen Ernstes als seinen Vater bezeichnete? Es musste ein Irrtum sein. Otmar konnte sie doch nicht die ganzen Jahre hindurch belogen und ein Doppelleben geführt haben. Aber warum stritt er Anselms Behauptung nicht ab? Warum stand er da und schwieg verbissen?
Mitten in diese Überlegungen hinein, die durch Irenes Kopf wirbelten, fragte Anselm: »Kommst du mit, Vati? Wir gehen zu Billie.« Dann fügte er unschuldig hinzu: »Kennst du überhaupt Tante Irene, Vati?«
»Ja, ich kenne sie«, entgegnete Otmar mit schwankender Stimme.
»Fein, das freut mich. Ich habe sie nämlich sehr lieb.«
Anselm war über das plötzliche Zusammentreffen mit seinem Vater nicht übermäßig verwundert. Er war daran gewöhnt, ihn stets in unregelmäßigen Abständen zu treffen. Weshalb er gerade jetzt hierhergekommen war, darüber machte er sich keine Gedanken. Hauptsache, er war hier.
Trotzdem fühlte das Kind vage, dass irgend etwas nicht in Ordnung war. Tante Irene war so blass geworden, dass Anselm fürchtete, sie sei krank geworden, würde womöglich umfallen und tot sein, wie damals seine Großmutter. Er sprach diese Befürchtungen auch aus, worauf Irene erwiderte: »Ja, das würde ich jetzt am liebsten tun.«
»Nein, Tante Irene, das wäre schrecklich. Dann würde ich dich nie mehr wiedersehen, genau wie meine Großmutti. Du darfst nicht sterben!«, rief Anselm voll Angst.
»Unsinn. So schnell stirbt man nicht.« Otmar hatte seine Sprache wiedergefunden.
»Doch. Meine Großmutti auch – ist umgefallen …«
»Denk jetzt nicht daran. Tante Irene ist noch jung. Ihr passiert so etwas nicht.« Otmar ergriff Anselms Hand und sagte dabei leise zu Irene: »Ich bitte dich, nimm dich jetzt zusammen und mache mir vor dem Kind keine Szene. Später erkläre ich dir alles.«
Irene war zu keiner Antwort fähig.
*
Der Nachmittag verlief für die beiden Erwachsenen äußerst unbehaglich. Sie vermieden es, miteinander zu sprechen oder einander auch nur anzusehen.
Dem Jungen blieb dieser Zustand der stummen Zwietracht natürlich nicht verborgen. Er ahnte nichts von dem Verhältnis, in dem Otmar und Irene zueinander standen, und wusste nicht, dass sein Vati Tante Irenes Mann war. Aber die Blicke voll kalter Verachtung, die Irene Otmar zuwarf, erregten seine Aufmerksamkeit. »Warum siehst du meinen Vati so an, Tante Irene? Magst du ihn nicht?«, fragte er.
»Ich sehe ihn gar nicht an. Du irrst dich«, wich Irene aus.
Auf Anselms Drängen, Billie zu besuchen, damit sein Vati den Hund kennenlernen könne, war Irene nicht eingegangen. Sie hatte keine Lust, im Tierheim vielleicht Andrea zu begegnen und dieser ihren Mann vorstellen zu müssen, der sich zu allem Überfluss auch noch als Anselms Vater entpuppt hatte.
Irene konnte nicht mehr klar denken. Sie hatte das Gefühl, plötzlich verrückt geworden zu sein. Der klare Spätsommertag, der Sonnenschein und der tiefblaue Himmel, alles kam ihr unwirklich vor. War das sie selbst, die hier neben Anselm und Otmar durch den stillen Wald ging? Und was würde nun weiter geschehen? Sobald sie Anselm wieder in Sophienlust abgeliefert hatte, würde Otmar Gelegenheit haben, seine Erklärungen vorzubringen. Wie würden sie lauten?
In Irenes Kopf summte es. Doch eine Tatsache blieb bestehen: Otmar hatte ein Kind mit einer fremden Frau. Er hatte sie demnach betrogen, oder doch nicht? Anselm war über fünf Jahre alt, während sie mit Otmar erst seit vier Jahren verheiratet war. Also war Anselm vor ihrer Ehe zur Welt gekommen. Warum hatte Otmar ihr die Existenz seines Kindes verschwiegen? Sie hätte ihm doch deswegen gar keine Vorwürfe gemacht. Wozu also diese Heimlichtuerei?«
Irene konnte sich auf diese Fragen nur eine Lösung denken: die Mutter des Kindes. Wahrscheinlich bedeutete Frau Nissel Otmar immer noch mehr als sie selbst.
Da der Weg durch den Wald nur schmal war, ließ Irene Otmar und Anselm vorausgehen und blieb ein Stück zurück. Sie wusste nun, dass ihre Sympathie für Anselm kein bloßer Zufall war. Unbewusst hatte das Kind sie an Otmar erinnert, aber früher war ihr die Ähnlichkeit zwischen den beiden natürlich nicht aufgefallen.
Die Minuten dehnten sich und kamen Irene wie Ewigkeiten vor. Wenn nur dieser schreckliche Nachmittag schon vorbei wäre! So gern sie Anselm hatte, jetzt war ihr seine Gegenwart unerwünscht, denn sie war nahe daran, die Beherrschung zu verlieren.
Anselm erzählte seinem Vater inzwischen von Sophienlust und plauderte fröhlich darauflos. Das war ein Glück, denn von Otmar erhielt er nur einsilbige Antworten. Auch den Wunsch, in das Kinderheim mitzukommen, um Tante Isi, Schwester Regine und Magda kennenzulernen, schlug ihm sein Vater ab.
»Ein anderes Mal. Heute ist es schon zu spät«, lautete die lahme Ausrede.
Es blieb Irene überlassen, Anselm nach Sophienlust zurückzubringen. Denise war nicht anwesend, und so überfiel Anselm Schwester Regine mit der großen Neuigkeit, dass er seinen Vater getroffen habe.
Schwester Regine blickte Irene fragend an. »Ist das wahr?«, Ich habe immer geglaubt, dass …« Sie brach ab, denn Anselm hörte aufmerksam zu.
»Ja, das habe ich auch geglaubt. Aber ich bin eines Besseren belehrt worden«, antwortete Irene.
Schwester Regine war über die Bitterkeit, die in Irenes Stimme durchklang, überrascht. Doch da sie Irenes Verlangen, den Jungen zu sich zu nehmen kannte, führte sie Irenes Verstimmung darauf zurück, dass dieser Plan nun durch das unerwartete Auftauchen von Anselms Vater vereitelt worden war. »Warum ist dein Vati nicht mit hereingekommen?«, fragte sie Anselm.
»Das weiß ich nicht.«
»Das ist eine sehr sonderbare Angelegenheit.« Schwester Regine wandte sich wieder an Irene. »Ich verstehe das Ganze nicht. Können Sie mir erklären, was vorgefallen ist?«
»O bitte, ich kann jetzt nicht.«
Nun erst fiel Schwester Regine Irenes erschreckende Blässe auf.
»Sind Sie krank? Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte sie besorgt.
»Es geht schon. Ich werde morgen wiederkommen und Ihnen alles erzählen, soweit ich dazu imstande bin.«
Mit diesem etwas rätselhaften Versprechen verabschiedete sich Irene und ließ Schwester Regine höchst verwundert zurück.
*
Otmar und Irene fuhren nach Maibach zurück.
»Du hast mich