Birdie. Tracey Lindberg
Das zu zeigen, damit hat auch Bernice zu kämpfen, als sie an dieses Gespräch zurückdenkt. In ihr wogen die Erinnerungen und prickeln die körperlichen Andenken an ihr Leben. Vor. Dem hier. Körper und Gefühle sind jetzt untrennbar verbunden, ihre Sealy-Matratze ein Schmelztiegel, in dem eins vom anderen ununterscheidbar wird. Da liegt sie voller Emotionen und Gefühle – Schmerzen, Kränkungen, Sehnsüchte, Liebe und Reue –, doch ihr ruhiger Körper gibt nichts davon preis. Freda und Lola, denen man die Sorge anmerkt wie einen schlimmen Kater, glauben, dass sie verfällt, aber Bernice weiß es besser. Sie weiß, dass sie sich sammelt.
Es ist ein echter Kraftakt, denkt sie. Ohne dass sie wüsste, was Zuhause ist, und obwohl sie dort nie war, fegt Heimweh über sie hinweg wie ein Rocksaum über den Boden. Könnten die Frauen in sie hineinschauen, dann würden sie einen Wirbel sehen, eine Beschleunigung, einen wahren Sturm. Was auch immer geschah – ihr Puls bleibt ruhig, während sich ihre Haut anfühlt, als ob sie von innen brennt.
Das Gefühl ähnelt dem Augenblick vor einer Ohnmacht, wenn sie sich richtig erinnert. Darin ist sie praktisch Expertin und meint zu wissen, dass es sich anfühlt, als ob man seine Haut ablegt und dann wieder anlegt. Sie versucht, sich selbst als Elchgulasch zu begreifen: Sie wird schon merken, wann sie gar ist. Das Gulasch ihrer Mom war das beste; vielleicht lag es an dem ganz frischen Fleisch, vielleicht auch daran, dass ihr selbstgemachtes Bannockbrot dazu gereicht wurde. Jedenfalls war ihr Elchgulasch ein Elixier, das fast alles heilte. Vielleicht ist Elch ihr Zuhause, denkt Bernice.
Das letzte Mal hat sie im Herbst, bevor sie in die Stadt gezogen ist, um dort zur Schule zu gehen, frischen Elch gegessen. Da muss sie zwölf oder dreizehn gewesen sein. Natürlich hatte ihn wieder ihre Mom gekocht. Sie wirkte klein und erschöpft, ungewöhnlich schwerfällig, als sie aufstand und zu dem hohen Kiefernholzschrank ging, den sie vor Kurzem lackiert und in die Küche gestellt hatte. Ihr kurzer brauner Arm reichte nur knapp bis an die Rückwand des Fachs, und sie verschwand fast im Schrank, um von dort etwas hervorzuholen. Bernice beobachtete, wie ihre Lider flatterten, als sie fand, was sie suchte, es mit den Fingern nach vorn kippte und daran zog. Es war eine braune Schachtel, in der Münzen klimperten. Ihre Mom hatte sichtlich Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten, und auf dem Weg zu ihrem Stuhl am Küchentisch schwankte sie zuerst in Richtung Treppe.
Maggie hatte einen Fünfdollarschein aus der Schachtel geangelt. »Würdest du mir Salz holen, aus dem HiLo? Es ist ja noch früh, und heute Abend brauchen wir welches.«
»Salz? Heute? Wir haben doch noch.« Bernice hatte den Salzstreuer in der Hand gewogen, der wie eine fette, tanzende weiße Frau geformt war. Er fühlte sich schwer an.
»Ayuh, wir brauchen mehr, ich will heute Fleisch trocknen und Gulasch kochen.«
»Heute noch?« Sie versuchte ihre Mom in ein Gespräch zu verwickeln, weil sie wenig Lust hatte, im Dunkeln und in der windigen Kälte vor die Tür zu gehen.
»Trödel nicht, zieh dir was über. Je eher du losgehst, desto eher bist du wieder zu Hause.«
Bernice war zur Haustür getrottet und hatte ihre Jacke angezogen.
»Nicht die, nimm den Parka, und vergiss nicht die Schneehose.«
»Die sieht dumm aus, ich hasse die Hose, Mom, die ist zu klein, und ich sehe darin aus wie …« – sie suchte nach einem passenden Ausdruck – »wie ein Bimbo.«
Bimbo, der Geburtstagsclown trat jeden Samstagmorgen um halb sieben in der Uncle-Bobby-Show auf. Von dem ganzen Marathon aus Professor Kitzel, Max der Maus und Spider-Man, den sich Bernice mit Freda und wechselnden Cousins und Cousinen zusammen anschaute, war er die schlimmste Etappe.
»Das Wort will ich in diesem Haus nicht hören!«, fuhr ihre Mutter sie an. Sie dachte offensichtlich nicht an Bimbo aus der Show, sondern an das Schimpfwort Bimbo für Frauen: Hirnloses Flittchen. »Sag das nie wieder.«
Zierlich wie sie war, pflanzte sie sich bedrohlich vor Bernice auf. Einen Moment lang hatte Bernice Angst, ihre Mutter würde sie schlagen.
»Nicht hauen.« Bernice kauerte sich in voller Montur in die Ecke – mit dem Parka, der Schneehose und den Fausthandschuhen hoffentlich gut genug gepolstert, dass es nicht so wehtun würde.
Irgendetwas begann sich auf dem Gesicht ihrer Mom abzuzeichnen. Etwas zwischen Schrecken und Scham. Sie war einen Schritt zurückgetreten und hatte leise gesagt: »Los jetzt, Birdie, geh spazieren und schnapp ein bisschen frische Luft. Du bist viel zu viel drinnen. Geh schon.«
In der Stille ihres Zimmers kann Bernice ihren eigenen zitternden Atem hören. Sie spürt, wie ihre Mom sich mit etwas abfindet und will nicht wissen, womit. Es ist etwas Vertrautes und Schmerzhaftes, das Bernice bei dem rumpelnden Lärm aus der Backstube unter ihr kaum bemerkt und sich weigert, es wiederzuerkennen. Doch sie besitzt einen sensiblen Gaumen für Schmerzen. Sie erinnert sich an das bittere, dumpfe Aroma. So schmecken Niederlagen.
Bernice hatte sich eine Mütze aufgesetzt und war in die spätherbstliche frühe Dunkelheit hinausgegangen. Der Wind heulte und pfiff ihr hinterher, als sie durch den Neuschnee stapfte. Der verfestigte sich unter ihren Füßen, und sie fand, dass er anfing, sich wie brauner Zucker anzufühlen.
Sie lief so schnell, wie ihr Asthma und die dicke Winterkleidung es ihr erlaubten. An der Hauptstraße wartete sie, bis keine Autos mehr kamen, und als sie sich wieder in Bewegung setzte, merkte sie an der Kälte in ihren Beinen, dass sie sehr lange am Straßenrand gestanden haben musste.
Auf dem vereisten Parkplatz des HiLo rutschte sie aus und wäre beinahe hingefallen.
»Cooler Stunt, Büffelkuh!«, rief jemand.
Es war Tim Lerat, der mit Jeansjacke und Jagdmütze breitbeinig dastand. Im Dunkeln, mit zerzausten Haaren und einer Kippe im Mund, sah er noch gespenstischer aus als sonst. Natürlich hatte er ein paar Jüngere dabei, die sich vergeblich bemühten, so auszusehen und so zu sein wie er.
»Yeah, super cool«, eiferte Shorty Moostoos ihm nach. Er war fünfzehn, zwei Jahre jünger als Tim, aber nur wenig größer als Bernice.
»Fahrt zur Hölle!«, schrie sie, als sie die Tür erreicht hatte, und bedankte sich im Stillen bei Mickey Spillane für diese Entgegnung.
Sie behielt die Jungs durch die Glasfront des HiLo im Auge, aber nur, wenn sie in einen der Gänge einbog und stehen blieb, um die Waren in den Regalen anzustarren. Sie lauerten auf sie, wie die Wölfe in Ruf der Wildnis. Bernice stellte sich vor, wie sie am Glas kratzten, mit harten Tierkrallen gegen die Scheiben klackerten und wie rasend versuchten, sich zu ihrer Beute durchzugraben.
Sie schaut sich nach dem alten Pocock um, dem Besitzer des HiLo, der niemandem über den Weg traute und sie genau beobachtete. Doch Bernice wusste über ihn Bescheid. Er ging davon aus, dass sich jeder so verhalten hätte, wie er es seit Jahren tat – er versuchte sich zu bereichern, indem er die Alten, die Dummen und die Minderjährigen betrog. Von lauter Reichtümern umgeben, wollte er dennoch immer mehr besitzen und nahm nicht wahr, was er hatte. Er war wie die großen Leute in Der kleine Prinz, die keiner einzigen Rose in ihrem Blumengarten Beachtung schenkten, weil es ihnen nur auf die Menge ankam. Sie wusste genau, dass er bloß einen Hut sah, und musste lächeln, weil sie selbst nicht nur den Elefanten in der Schlange erkannte, sondern sogar hörte, wie er zu ihr sprach.
»Was suchst du, Bernice Meetoos?« Pocock schrie fast, obwohl sie dicht vor ihm stand.
Sie schielte zum Ausgang hinüber. Die Wölfe waren noch da; sie spuckten und rauchten, wie es alle bösen Wölfe tun.
»Ich, äh, suche, äh, ich bräuchte Salz.« Sie wusste, dass die Sifto-Kartons direkt hinter ihr aufgestapelt waren.
»Bist du blind? Da ist es doch!« Er sprang von seinem Hocker auf und zeigte mit dem Finger auf das Salz, aber ohne es zu berühren. Es sah fast so aus, als wollte er nichts anfassen, was sie kaufen und mit nach Hause nehmen würde.
»Ach, ja, danke, ich seh’s.«
Sie nahm eine Packung und ließ sie im nächsten Moment fallen, weil das Geräusch von Shortys Gelächter und Tims Geheul sie