Motte und Co Band 4: Die Insel der Drogenbande. Ulrich Renz
atmete tief durch. Wenn nur ihre Parfümwolke auch mit verduftet wäre.
Er beugte sich wieder über sein Heft.
Aber sobald er die leeren Seiten vor sich hatte, ging wieder das Kopfkino los: Das zerfurchte Gesicht des Rastamanns tauchte auf, der bleiche Junge mit der orangenen Badehose auf der Trage, das flackernde Blaulicht der Polizeiwagen …
Mottes Gedanken wurden von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. So leise klopfte nur Mama. Und die hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Mit einem gut vernehmbaren Stöhnen ließ er ein „Herein“ hören. Sie würde ja sowieso nicht lockerlassen.
„Ich will ja nicht stören, aber …“ Ihr Blick hatte schon das leere Heft erfasst. „... wollte doch mal schauen, wie du mit der Hausaufgabe von Siegwart zurechtkommst. Ich mach mir nämlich ein bisschen Sorgen …“
Mama mit ihren Sorgen. Es schien ihr Lebensinhalt zu sein, sich Sorgen um ihre Kinder zu machen.
Er ließ ein genervtes „Ja?“ hören. „Ich wollte jetzt eigentlich endlich mal anfangen …“
„Du, vielleicht ist es ja ganz gut, dass du noch nicht angefangen hast … Weißt du, ich hab mir überlegt … diese ganze Sache mit den Drogen … und dieser Bande … Willst du wirklich darüber schreiben? Ich meine … es ist jetzt alles noch so frisch, du hattest noch gar keine Zeit, das richtig zu verarbeiten. Weißt du, du bist jetzt in so einer sensiblen Phase, so am Anfang der Pubertät, auch für Jungs ist das keine leichte Zeit …“
Mama wieder mit ihrer Pubertät, definitiv ihre Lieblingssorge. „Ach Mama, es ist nun mal so passiert, und ich bin schließlich kein kleines Kind mehr.“
„Natürlich nicht, aber was ihr da durchgemacht habt, wäre auch für einen Erwachsenen eine große Belastung. Lass doch das mit der Drogenbande weg, ihr habt doch auch sonst so viel erlebt. Und so viel Schönes! Du könntest zum Beispiel über diesen netten Ausflug in das Städtchen schreiben, wo wir diese Stadtführung gemacht haben, das war doch so schön, weißt du noch, …“
„Mama …“
„... wie wir dann am Abend noch am Hafen in diesem Eiscafé gesessen haben und die Griechen so wunderbare Musik gemacht haben? Und dann dieser Sonnenuntergang …“
„Mama, wen interessiert das denn?“
Sie schaute Motte mitleidsvoll an, wie wenn er schlimm krank sei. „Weißt du, es war einfach zu heftig. Wenn du willst, schreibe ich dir eine Entschuldigung, dass du die Hausaufgaben nicht machen konntest.“
„Mama, ich schreibe über diese Ferien, und zwar so, wie sie waren.“
Sie hatte offenbar verstanden – und auch seinen Blick zur Tür richtig interpretiert. „Vielleicht hast du ja recht. Wahrscheinlich weißt du selber am besten, was dir guttut. Vielleicht hilft dir gerade das Schreiben dabei, alles zu verarbeiten.“ Sie ging zur Tür. „Dann will ich dich jetzt nicht länger stören.“
Im Hinausgehen warf sie noch einmal einen Blick auf das leere Heft. „Weißt du, wenn man ein bisschen durcheinander ist, hilft es manchmal, wenn man alles stur der Reihe nach sortiert. Einfach ganz am Anfang anfangen und dann eins nach dem anderen, stur der Reihe nach.“ Sie machte die Tür leise hinter sich zu.
Vielleicht hatte Mama ja recht. Stur der Reihe nach.
Er zog das Heft zu sich heran, nahm den Stift in die Hand und schrieb mit großen Buchstaben: „EIN UNVERGESSLICHES FERIENERLEBNIS“
1. KAPITEL
Wie alles anfing
Eigentlich hat alles schon lange vor den Ferien angefangen, ich kann mich noch genau an den Moment erinnern. Es war kurz nach Ostern, wir saßen abends am Tisch und waren gerade mit dem Abendessen fertig. Ich erinnere mich sogar noch, was es gegeben hatte, einen Kartoffel-Zucchini-Auflauf aus Mamas neuester Koch-Zeitschrift „Volles Rohr Öko“. Der Auflauf sollte, wie Mama uns vor dem Essen vorlas, „eine neue Epoche des Geschmackserlebnisses einleiten“. Wo in anderen Familien ein Tischgebet gesprochen wird, werden bei uns Rezepte verlesen, und zwar mindestens genauso feierlich. Das versprochene Geschmackserlebnis fand ich persönlich aber nicht so umwerfend. Wegen mir musste eigentlich keine neue Epoche anfangen.
Wir saßen also nach dem Abendessen am Tisch und ich wartete schon auf den Startschuss zum Aufstehen. Der kommt bei uns immer von Papa, er murmelt dann ein kaum hörbares „Also dann …“, und schon ist er zur Tür raus. Diesmal blieb Papa aber einfach sitzen und sagte gar nichts. Irgendwas war da merkwürdig. Ich schaute zu Mama – sie hatte eine geheimnisvolle Miene aufgesetzt und rutschte auf ihrem Stuhl herum.
„Und jetzt lasst uns mal den Sommerurlaub planen“, sagte sie unvermittelt. So verschwörerisch wie sie dabei Papa anschaute, war schon klar, dass die beiden sich etwas ganz Besonderes ausgedacht hatten. Sommerferien, das hieß bei uns so lange ich denken kann: drei Wochen in dem hellblauen Ferienhäuschen am Staffelsee. Nicht, dass ich jetzt meckern wollte, wir hatten es immer schön am See, aber ich habe mir schon manchmal gedacht, dass wir auch mal ganz woanders hin gehen könnten, irgendwo weiter weg. Besonders dann, wenn meine Mitschüler nach den Ferien in der Klasse von Safaris in Afrika, Trekking-Touren durch Nepal und Schnorcheln im Roten Meer erzählten und auf den Handys die Bilder dazu zeigten.
„Wir haben uns gedacht …“ Mama schaute wieder zu Papa und machte eine Pause. Wahrscheinlich wollte sie es damit extra spannend machen. „Sag du, Reinhard!“
„Nein du, Solvejg, du hast das doch alles so schön ausgesucht.“
„Also wir dachten, dass wir mal in den Süden fahren könnten …“
Süden, das klang schon mal gut. Obwohl der Staffelsee ja eigentlich auch im Süden lag.
„... ans Mittelmeer …“
Das klang jetzt schon viel besser.
„... nach Griechenland – da scheint jeden Tag die Sonne.“
„Und vor allem“, übernahm Papa mit einem beglückten Gesichtsausdruck, „gibt es dort Kulturschätze ohne Ende zu besichtigen. Griechenland ist die Wiege der europäischen Kultur – das habt ihr doch bestimmt schon im Geschichtsunterricht gehabt. Und ihr habt bestimmt schon von der Akropolis gehört – und dem Parthenon-Tempel. Und vom Hephaistos-Tempel und dem Tempel der Aphrodite.“ Er konnte gar nicht mehr aufhören mit seinen Tempeln.
„Ich will keine Tempel besichtigen, ich will chillen!“
Klar musste das jetzt von Ute kommen. Chillen war ihr neuestes Lieblingswort, neben „krasser Shit“ und „voll heftig“. Vermutlich hatte sie das von ihren YouTuberinnen. Da wir zuhause keine Smartphones oder sonstigen elektronischen Medien benutzen dürfen, weil Mama Angst vor der Strahlung und vor allem um unsere geistige Entwicklung hat, verbrachte Ute jetzt jede freie Minute mit Melanie und deren Smartphone, das natürlich voll heftig und krasser Shit und alles war. Bei dem, was bei ihr vom Verblödungsfaktor her rausgekommen war, musste man Mama eigentlich Recht geben.
„Aber natürlich darfst du auch ausspannen, Ute“, sagte Mama, „die Ferien sind ja dazu da, wieder richtig Energie zu tanken, gerade in der Pubertät ist das besonders wichtig.“
„Pubertät, von lateinisch pubertas, Geschlechtsreife“, murmelte Papa. Er hat diesen Tick, dass er jedes Fremdwort erklären muss.
Mama hatte jetzt einen bunten Prospekt in der Hand und faltete ihn feierlich auf.
„Wir haben da was ausgesucht, auf einer Insel, die soll eine der schönsten von ganz Griechenland sein. Eine Ferienanlage mit einem ganz neuartigen Konzept.“ Sie las vor: „Eine Kombination von Entspannung und Aktivurlaub. Die großzügig gestaltete Anlage liegt mitten in unberührter Natur.“ Sie legte den Prospekt auf den Tisch und strahlte uns an. „Schaut euch das mal an!“
Die Bilder sahen wirklich super aus: Auf der Luftaufnahme waren nette weiße Häuschen zu sehen, die sich um zwei türkisgrüne Swimmingpools