Digitales Schreiben. Blogs & Co. im Unterricht. Philippe Wampfler
von echten, alltagsnahen Problemen zu gestalten, so dass Texte auch für reale Leserinnen und Leser geschrieben werden sollten.
Wer von diesen Einsichten ausgeht und versucht, Schreibsettings zu schaffen, in denen Schülerinnen und Schüler fokussiert und prozessorientiert lernen können, wird digitale Hilfsmittel in Betracht ziehen.
Im Folgenden können nicht alle Facetten digitaler Schreibarrangements dargestellt werden, aber es werden die zentralen Aspekte zusammengestellt, die individuell an die Lernsituation angepasst werden müssen: Digitale Schreibwerkzeuge (Smartphone, digitale Stifte, Tastaturen, Diktierprogramme) erweitern und ergänzen die bisher zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Es ist heute denkbar, für jede Phase eines Schreibprozesses das kognitiv und physisch passende Werkzeug zu verwenden. Wie bereits erwähnt, bieten sich für Planungs- und Strukturierungsarbeiten Papier und Bleistift an (allenfalls digitales Papier und digitaler Bleistift). Für eine erste Niederschrift eines Entwurfes eignet sich hingegen eine Tastatur, auf der schnell getippt werden kann. Fürs Überarbeiten scheinen Tablets ideal, auf denen Passagen markiert und mit Kommentaren versehen werden können. Die einzelnen Phasen des Schreibens werden so auch medial sichtbar getrennt, die Affordanzen21 der entsprechenden Schreibumgebungen unterstützen die in einer Phase relevanten Prozesse.
[27]Was Schreibumgebungen leisten können, kann am Beispiel eines Texteditors deutlich gemacht werden. Der iA Writer ist ein Programm, das für verschiedene Betriebssysteme zur Verfügung steht. Grundsätzlich ist es minimalistisch eingerichtet: Es bietet wenig Menüs und Knöpfe, dafür primär eine leere Seite, die beschrieben werden kann. Beim Schreiben können verschiedene Modi gewählt werden: Ein Fokus-Modus färbt beispielsweise den gesamten Text grau ein und hebt den aktuellen Satz schwarz hervor, damit der Schreibprozess auf einen Satz fokussiert wird. Das Programm kann aber auch einzelne Wortarten farbig hervorheben, um beispielsweise syntaktische Strukturen zu zeigen (s. Abb. 3). Das sind zwei Funktionen, die z. B. beim Schreiben auf Papier nicht verfügbar sind.
Abb. 3: Screenshot des iA Writer mit Fokusmodus (aktueller Satz schwarz) und Hervorhebung des Verbs (»haben … geholt«, im Original blau)
iA Writer (ia.net/de/writer)
Textverarbeitungsprogramm zum Download in minimalistischer Ausstattung mit Fokusmodus
Verfügbar für Windows, Mac und mobile Geräte, Trial-Download kostenlos
[28]Als digitale Dateien vorliegende Textentwürfe laden generell dazu ein, überarbeitet zu werden. Digitale Texte sind immer in einen Prozess der Überarbeitung eingebunden, weil sie nicht grafisch auf Papier fixiert werden. Sie verdeutlichen das Angebot, an Texten zu feilen, sie neu zu strukturieren oder an neue Kommunikationszusammenhänge anzupassen. Technische Möglichkeiten wie Copy & Paste oder eine automatische Rechtschreibkorrektur vereinfachen wesentliche Schritte beim Überarbeitungsprozess. Noch deutlicher wird das Überarbeitungspotenzial, wenn die kollaborativen Möglichkeiten der Textproduktion in den Blick genommen werden: Dateien in Textverarbeitungsprogrammen können heute von mehreren Personen gleichzeitig bearbeitet und kommentiert werden. Die Prozesshaftigkeit des Schreibens wird sichtbar, wenn kollaborative Text- oder Redaktionsarbeit mit Peer-Feedback22 verbunden erfolgt. Das gilt in zweierlei Hinsicht: Erstens müssen in einen sozialen Kontext die einzelnen Phasen in der Interaktion mit anderen Schreibenden abgestimmt werden, zweitens können Veränderungen an Texten in den entsprechenden Programmen sichtbar gemacht werden. Viele Textverarbeitungsprogramme bieten Ansichten an, in denen Überarbeitungsprozesse rekonstruierbar werden.
[29]Auch digitale Plattformen wie Twitter, Instagram oder Facebook stützen prozessbezogenes Schreiben. Texte, die im Netz publiziert werden, sind in Kommunikationssettings eingebunden. Sie werden gelesen (nicht nur von einer Lehrperson oder Peers) – und kommentiert. Digitale Medien haben die Publikation von Texten radikal vereinfacht. Daraus ergeben sich für den Schreibunterricht neue Möglichkeiten, Schreibarbeit in einen Kommunikationsprozess einzubinden.
Lindauer und Senn schreiben über die Prozesshaftigkeit des Schreibens:
»Der Aufbau der dafür nötigen Schreibkompetenzen ist grundsätzlich nur möglich, wenn die Schülerinnen und Schüler lernen, diese Prozesse selbstständig zu steuern. Dies bedingt, dass sie während des Schreibens laufend ihre Arbeit überwachen und beurteilen: Ist das Wichtigste aufgeschrieben? Habe ich genügend verständlich formuliert?«23
Schreiben wird in der Schreibdidaktik als Verfahren betrachtet, mit dem prozesshaft Probleme gelöst werden. Ein Bewusstsein für die Bedeutung der nötigen Schritte und Kompetenzen kann nicht an Software übertragen werden. Programme und insbesondere digitale Plattformen können aber das Einüben und Erkennen dieser Schritte und Kompetenzen unterstützen und erleichtern.
[30]Interaktionsorientiertes Schreiben
Die Linguistin Angelika Storrer hat in ihren Arbeiten zu Schreibprozessen im Internet das Konzept des interaktionsorientierten Schreibens ausgearbeitet. Sie definiert es in Abgrenzung zu textorientiertem Schreiben: Führt das textorientierte Schreiben zu einem Text, der »ohne unmittelbare Interaktion zwischen Schreiber und Leser zu verstehen« ist, bezieht sich interaktionsorientiertes Schreiben »auf einen Kommunikationsverlauf in einer digitalen Interaktionsumgebung, bei der die Möglichkeit besteht, Verstehensprobleme interaktiv zu bearbeiten.«24 Das Ziel des Schreibens besteht darin, die Interaktion aufrechtzuerhalten und von anderen daran beteiligten Personen verstanden zu werden. Aus diesen Gründen kann Reaktionsgeschwindigkeit eine größere Bedeutung einnehmen als formale Korrektheit; Gesprächsnormen erhalten Priorität vor anderen sprachlichen Normen.
Interaktionsorientiertes Schreiben lässt sich als spezielle Ausprägung der prozessorientierten Schreibdidaktik betrachten. Allerdings gibt es gravierende Unterschiede zwischen einem interaktionsorientierten und einem textorientierten Prozess: Storrer erwähnt die Bereitschaft, Kompromisse hinsichtlich sprachlicher und formaler Genauigkeit zu machen, um auf der Handlungsebene schnell genug und adäquat reagieren zu können. Das muss bei der Beurteilung des Schreibprozesses berücksichtigt werden.
[31]Storrer arbeitet mit Verweis auf den Linguisten Hennig Lobin25 zentrale Tendenzen heraus, die bedeutsam für interaktionsorientierte Schreibformen sind:
Digitale Vernetzung führt zu einer »schnelle[n] Rückkopplung«26 zwischen Personen. Fast alle Personen sind über digitale Nachrichten schnell erreichbar.
Datenintegration verbindet unterschiedliche mediale Formen: Text- und Sprachnachrichten sind, wie auch bewegte und unbewegte Bilder, auf denselben Kanälen zu finden.
Automatisierung zeigt sich darin, dass auch sogenannte Bots an Interaktionen beteiligt sind. Auf den Webseiten von vielen Dienstleistern erscheinen Chatfenster, in denen Besucherinnen und Besucher Anliegen formulieren können. Diese werden dann von Programmen beantwortet.
Im Unterricht interaktionsorientierte Schreibanlässe zu schaffen, ist von großer Bedeutung, weil Menschen beruflich und privat die Kompetenz brauchen, auf digitalen Plattformen angemessen und wirkungsvoll schreiben zu können. Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen: Immer mehr Firmen ersetzen den E-Mail-Verkehr durch Chat-Tools wie Slack oder Microsoft Teams. Die Belastung durch E-Mails soll durch interaktivere Kommunikationsformen reduziert werden. Das bedeutet aber, dass von Mitarbeitenden effizientes und professionelles Chatten verlangt wird. Im privaten Bereich lässt sich das am Stellenwert von Partnervermittlungsplattformen zeigen: Gemäß einer soziologischen Studie lernen sich in den USA rund 40 % [32]der heterosexuellen Paare online kennen – im Jahr 2000 waren das erst rund 5 %.27 Eine ähnliche Tendenz lässt sich auch im deutschsprachigen Raum feststellen. Die Fähigkeit, sich in Chats als interessante Person präsentieren zu können, wird so wichtiger.
Die digitale Transformation hat also dazu geführt, dass die Fähigkeit, interaktionsorientiert zu schreiben, neben dem textorientierten Schreiben eine eigenständige Bedeutung erhalten hat. Storrer hält fest: »[K]ompetente Schreiber [sind] durchaus dazu in der