Historisches Lernen mit schriftlichen Quellen. Wolfgang Buchberger
als Regelform schulischer Geschichtsvermittlung vollzogen wurde und sich wissenschaftsorientierte Quellenarbeit allmählich durchsetzen konnte.139 Erste Forderungen nach Quellenarbeit für den Schulunterricht gab es zwar bereits vor mehr als 200 Jahren,140 doch trotz feststellbarer Versuche, progressive didaktische Konzepte im Sinne eines aufgeklärten, selbststätigen Umgangs der Lernenden mit historischen Quellen zu implementieren,141 konnten sich derartige Ideen lange Zeit nicht durchsetzen.142 Daher war es bis in die 1970er-Jahre üblich, Geschichte als geschlossene Erzählung der Lehrkraft zu vermitteln, möglichst spannend, teilweise fantastisch ausgeschmückt und auf ausgewählte historische Personen hin ausgerichtet.143 Entsprechend selektierte Quellen hatten dabei, vorwiegend als Hilfsmittel für die Vorbereitung der Erzählung, illustrierende und veranschaulichende Funktion,144 damit der auf Reproduktion auswendig zu lernender Wissensbestände ausgerichtete Unterricht erfolgreicher, interessanter und intensiver, werden könne.145 Parallel zur Etablierung der Geschichtsdidaktik als eigenständiger Wissenschaftsdisziplin146 wird nun seit den 1970er-Jahren mit Verweis auf die zentrale Bedeutung von Quellen für die Geschichtswissenschaft ein wissenschaftsorientierter Umgang mit Quellen im schulischen Unterricht gefordert,147 der entgegen eines illustrativen Einsatzes selbstständig forschendes Lernen möglich machen sollte, um derart historische Erkenntnisgewinnung begreifbar zu machen und Reflexionen darüber anzuregen sowie prozedurales Wissen zu vermitteln. Durch diese in den 1970er-Jahren angestoßene Veränderung kam es zu weiteren Phasen der Entwicklung, die folgendermaßen unterschieden werden können: So kann von einer verstärkten Methodenorientierung in den 1990er-Jahren148 und erst ab den 2000er-Jahren von einer Ausrichtung auf Kompetenzen historischen Denkens gesprochen werden, indem die „Schere zwischen Inhalts- und Methodenlernen“ geschlossen und Quelleninterpretation im Sinne der Operationen historischen Denkens und historischer Orientierung als „Weg individueller Sinnbildung und epistemologischen Lernens“ akzentuiert wird.149
Geht man von der Grundlage aus, dass das Ziel historischen Lernens nicht darin bestehen kann, träges Inhaltswissen zu produzieren, sondern darin bestehen muss, historisches Denken, das durch fachspezifische Kompetenzen operationalisiert werden kann, zu initiieren und weiterzuentwickeln, so stellt sich die Frage, welche Kompetenzen historischen Denkens im Umgang mit Textquellen entwickelt werden können.
Wie deutlich geworden sein sollte, handelt es sich bei den Kompetenzen, „die im Umgang mit Quellen erworben werden bzw. die für einen angemessenen Umgang mit Quellen ausschlaggebend sein sollen, letztlich um konzeptionelle Übersetzungen geschichtstheoretischer Konzepte, die auf der Ebene schulischer (und im Sinn der FUER-Gruppe auch außerschulischer) Geschichtsvermittlung ablaufende Prozesse und Minimalanforderungen beschreiben“150. Im Umgang mit Textquellen betrifft das die synthetischen Prozesse der Re-Konstruktion von Vergangenem. Re-Konstruktion bedeutet demnach im Kontext von FUER „die von einer Fragestellung geleitete Erschließung vergangener Phänomene […] mit Hilfe von Quellen“151. Dabei spielen Heuristik, Quellenkritik und Quelleninterpretation eine Rolle, allesamt mit dem Ziel der Erstellung einer kontextualisierenden historischen Narration.152 Aus dem FUER-Modell – hier aus der Kernkompetenz der methodisch regulierten Re-Konstruktion – können folglich zum Umgang mit Textquellen die beiden folgenden Einzelkompetenzen153 abgeleitet werden:
• Quellen und Darstellungen hinsichtlich ihrer Charakteristika unterscheiden
• Anhand eines Leitfadens Textquellen beschreiben, analysieren und interpretieren
Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Quelle und Darstellung sollen im Rahmen eines Re-Konstruktionsprozesses Textquellen beschrieben, analysiert und interpretiert werden.154 Im Bereich der Beschreibung bzw. der Erschließung von Quellen sind sowohl Aspekte der Heuristik (z. B. Suche nach den für die Beantwortung der Frage geeigneten Quellen), der äußeren Quellenkritik (z. B. Authentizität der Quelle) als auch der inneren Quellenkritik (z. B. Zusammenfassung des Inhalts als Voraussetzung für die Analyse) zu verorten. In den Bereich der Analyse von Textquellen fallen v. a. Aspekte der inneren Quellenkritik wie die Untersuchung von Sprache, Intention/Absicht, dahinter liegende Perspektiven/Weltbilder/Interessen, vom Verhältnis zu Empfänger*innen oder dem historischen Kontext der Quelle. Diese analytischen Aspekte innerer Quellenkritik spiegeln sich etwa in folgenden Einzelkompetenzen wider:
• Gattungsspezifik für die Arbeit mit der Quelle berücksichtigen
• Die unumgängliche Perspektivität von Textquellen feststellen
• Die Intention von Textquellen feststellen
Im Bereich der Interpretation als dem letzten Teilschritt des Prozesses der Quelleninterpretation stehen die historischen Narrationen als Antworten auf Fragen an die Vergangenheit auf der Grundlage von Analyseergebnissen im Zentrum:
• Aus den Ergebnissen der Quellenarbeit (und Erkenntnissen von Darstellungen) eine selbstständige historische Narration erstellen
• Erstellen verschiedener Darstellungsarten (z. B. Sachtext, Plakat, Video) zur gleichen Materialgrundlage erproben
Überlappungsbereiche ergeben sich sowohl zu den prozeduralen Kompetenzbereichen historische Frage- und Orientierungskompetenzen als auch zu den historischen Sachkompetenzen. Im Bereich der historischen Fragekompetenzen stehen Orientierungsbedürfnisse berücksichtigende und Leseabsicht festlegende – auch als Teil der der Heuristik zu verstehende – Fragen an die Vergangenheit im Mittelpunkt:
• Fragen an historische Textquellen stellen
• Eigenständige Fragen an die Vergangenheit (zu Entwicklungen) entlang einer Textquelle formulieren
Wenn auch Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen explizit in diesem Sinnbildungsprozess miteinbezogen werden, müssen Einzelkompetenzen der historischen Orientierungskompetenzen fokussiert werden:
• Erkenntnisse von eigenen und fremden Darstellungen zur individuellen Orientierung hinsichtlich der Bewertung der Vergangenheit und möglicher Handlungsoptionen in der Gegenwart und Zukunft nutzen
• Über die (persönliche) Nutzung von historischen Erkenntnissen zur individuellen Orientierung in der Gegenwart und Zukunft reflektieren
Wesentlich ist, dass die Fähigkeit des kritischen und eigenständigen Umgangs mit Vergangenheit (und Geschichte) die Kenntnis von und den Umgang mit dem methodengeleiteten Prozess historischen Erkenntnisgewinns voraussetzt: „Ohne diese historischen Kompetenzen können der eigene Umgang mit Vergangenheit und Geschichte, also das eigene historische Denken, die eigenen Fragebedürfnisse, Erzählungen, Theorien weder begründet, geschweige denn verändert werden.“155 Es braucht daher die Kenntnis und Anwendung historischer Erkenntnisverfahren und somit die Heranführung an den Prozess der Re-Konstruktion vergangener Wirklichkeit (neben der Befähigung, geschichtskulturelle Produkte zu analysieren).