Historisches Lernen mit schriftlichen Quellen. Wolfgang Buchberger
Methodenlernens fern von der Grammatik historischen Denkens mehr nötig als die Kenntnis des regelgeleiteten methodischen Umgangs mit unterschiedlichen Textquellenarten, da ebenso deutlich werden muss, inwiefern Interpretationsprozesse zur Bearbeitung historischer Fragen eingesetzt werden und welche Bedeutung diese für historische Orientierung haben können.157 Schüler*innen können durch Interpretationen von historischen Quellen lernen, wie Geschichte gemacht wird, und reflektieren ferner die Voraussetzungen historischer Erkenntnis- und Sinnbildungsprozesse.158
III.4 Historisches Lernen mit Schulbüchern
Ausgehend vom Ziel des Geschichtsunterrichts, historisches Denken zu lernen, sind auch Schulbücher als Medien historischen Lernens zu verstehen.159 Solcherart müssen sie in ihrer Gestaltung bestimmte Merkmale aufweisen, die dazu geeignet sind, Kompetenzen des historischen Denkens im Umgang mit Textquellen anzubahnen.160
Laut Bodo von Borries wird „Geschichtsunterricht […] nicht anhand fachdidaktischer Konzeptionen und Grundsatzerklärungen erteilt, sondern anhand von Geschichtsbüchern […].“161 Dies bestätigen auch neuere Untersuchungen zur Bedeutung des Schulbuchs im Unterricht (CAOHT)162 Nach Jörn Rüsen ist für ein ideales Schulgeschichtsbuch ausschlaggebend, dass es seinen wesentlichen Zweck erfüllt, nämlich „historisches Lernen zu ermöglichen, zu initiieren und zu fördern.“163 Das „Hauptbeurteilungskriterium“ für ein Geschichtsschulbuch muss also „seine Eignung für die Anbahnung und erfolgreiche Durchführung historischer Lehr-/Lernprozesse“ sein.164 Es lohnt sich daher einen Blick auf Meilensteine der geschichtsdidaktischen Schulbuchanalyse-“Kriterienbündel“165 zu werfen (Bodo von Borries 1980, Jörn Rüsen 1992, Alexandra Binnenkade und Peter Gautschi 2003, Alexander Schöner und Waltraud Schreiber 2006), um daraus Forderungen abzuleiten, wie Schulbücher beschaffen sein müssen, damit historische Lehr-/Lernprozesse initiiert werden können.
Um die Grundlagen für historisches Lernen zu ermessen, werden in diesen Arbeiten unterschiedlichste Kriterien genannt,166 wie z. B. die Relevanz von (historischen) Fragen,167 Aspekte wie Multiperspektivität und Kontroversität,168 Kohärenzen zwischen Autorentext und Materialien bzw. Kohärenzen zwischen einzelnen Arbeitsmaterialien (Quellen und Darstellungen),169 Offenheitsgrade von Aufgabenstellungen und unterschiedliche kognitive Anforderungsbereiche,170 Differenzierungsmöglichkeiten,171 Gegenwarts- und Lebensweltbezüge oder Orientierungsbedürfnisse172 usw.
Da es in der vorliegenden Untersuchung von Schulbüchern um den Umgang mit Textquellen geht, reduziert sich die nun folgende Auswahl von Qualitätskriterien auf den Einsatz von Quellen. Zum Umgang mit Quellen als Grundlage historischen Lernens schreibt etwa Rüsen: „Brauchbar ist ein Schulbuch dann, wenn mit ihm im Unterricht wirklich gearbeitet werden kann. Der Arbeitsbuchcharakter ist also unverzichtbar.“173
• Quellenarbeit als unverzichtbare Voraussetzung
Zur Arbeit mit Quellen174 im Speziellen meint Borries: „Das Schulbuch muß die Form einer ‚untersuchenden Darstellung‘ (Droysen6 1971, 286 ff.), also einer Arbeit mit den Quellen haben.“175 Einschränkend fügt er hinzu: „Quellenarbeit kann leicht als das eigentliche Ziel, als der Zweck der Geschichtswissenschaft (und des Geschichtsunterrichts) verkannt werden. Allenfalls im Sinne einer antiquarischen Geschichtsbetrachtung wäre das zutreffend; für Geschichtsunterricht ist es nicht akzeptabel. […] Quellenkritik ist nicht Selbstzweck […]. Die Quellenarbeit ist im Unterricht dadurch gerechtfertigt, daß Untersuchungsprozesse durchgeführt und nicht Untersuchungsergebnisse rezipiert werden sollen.“176 Quellen, so wird zudem gefordert, müssen als solche klar erkennbar (z. B. vom Darstellungsteil abgegrenzt)177 und ausreichend ausgewiesen sein,178 damit auch quellenkritisch gearbeitet werden kann.
• Erkenntnisprozesse müssen begreifbar gemacht werden
Da das Verständnis des methodengeleiteten Prozesses historischen Erkenntnisgewinns für einen kritischen Umgang mit Vergangenheit (und Geschichte) Voraussetzung ist, müssen im Umgang mit Quellen diese Erkenntnisprozesse begreifbar gemacht werden.179 Es stellt sich also die Frage: „Werden historische Erkenntnisprozesse an Beispielen eingeübt, d. h. können sie an geeignetem Material von den Schülern [und Schülerinnen] diskutiert und vollzogen werden?“180
• Quellenkritik als Ziel des Geschichtsunterrichts
Im Gegensatz zur Quellengläubigkeit ist daher Quellenkritik das anzustrebende Ziel des Geschichtsunterrichts181: „Das Schulbuch muß einen deutenden Umgang mit der historischen Erfahrung nahelegen, der den wichtigsten methodischen Prinzipien des historischen Denkens entspricht, für die die Geschichte als Fachwissenschaft einsteht. Es muß die wichtigsten Verfahren des historischen Denkens präsentieren, und zwar so, daß sie praktisch eingeübt werden können: die Entwicklung von Fragestellungen, die Bildung und Überprüfung von Hypothesen, die Erschließung und Analyse des historischen Materials, eine kritische Anwendung von übergreifenden Kategorien und Deutungsmustern.“182
• Quelleninterpretation und Narrativieren
Re-Konstruktionsprozesse umfassen ausgehend von der Fragestellung, der methodengeleiteten Auswertung von Quellen auch die Interpretation der Ergebnisse und die sachangemessene und verständliche Darstellung derselben. Gerade die letzten beiden Aspekte müssen folglich als Ziele des Arbeitsteiles von Geschichtsschulbüchern183 in den Fokus der Analyse rücken: „Grundsätzlich muß das Schulbuch die Möglichkeit eröffnen, […] aus den Quellenteilen historische Zusammenhänge durch selbständige Interpretation (neben der Autorendarstellung oder ergänzend zu ihr) zu erstellen.“184 Denn erst „durch die Deutungsarbeit des Geschichtsbewußtseins wird aus den wahrgenommenen Phänomenen der Vergangenheit so etwas wie eine sinn- und bedeutungsvolle Geschichte“.