Historisches Lernen mit schriftlichen Quellen. Wolfgang Buchberger
target="_blank" rel="nofollow" href="#ulink_91f5b71d-e2e9-544e-91ea-8080338def1d">60 Vgl. zu den Arbeiten zum Schulbuchverständnis Borries 2005; Meyer-Hamme 2011. Vgl. zu Hinweisen zur Schulbuchgestaltung z. B. Zülsdorf-Kersting 2011.
„Es geht wirklich ins Komische, wenn man (…) von längst Vergangenem sich mit Gewißheit überzeugen will.“61 (Johann Wolfgang von Goethe)
III. Dimensionen des Historischen Lernens
III.1 Historisches Lernen
Im Rahmen einer Schulbuchanalyse, die grundgelegte Möglichkeiten historischen Lernens untersuchen möchte, ist es unumgänglich, normative Gesichtspunkte historischen Lernens zu benennen62, die Aufschluss darüber geben, welche Ziele denn eigentlich erreicht werden sollen.63 Speziell mit Blick auf den Umgang mit Textquellen im schulischen Unterricht postuliert Pandel als Ziel des historischen Lernens im Geschichtsunterricht: „Historisch denken zu lernen.“64 Aber was genau bedeutet es, historisch zu denken und wie kann man es lernen? Welche konkreten Operationen historischen Denkens sind für die Untersuchung des Umgangs mit Textquellen in Schulbüchern relevant?
In der Geschichtsdidaktik als „Wissenschaft vom historischen Lernen“65 besteht heute Einigkeit darüber, dass es im Geschichtsunterricht66 um mehr gehen muss als um die Vermittlung auswendigzulernender Wissensbestände über die Vergangenheit. Als Ziel wird vielmehr die Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins ausgewiesen. Vor bereits mehr als 40 Jahren sieht Jeismann als den Kern der geschichtsdidaktischen Wissenschaftsdisziplin das „Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft“67. Geschichtsbewusstsein ist für ihn der innere „Zusammenhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive“68. Auch Rüsen fordert die Hinwendung zum Geschichtsbewusstsein als „Basis allen historischen Lehrens und Lernens“69:
„Die oberste Qualifikation, die durch das historische Lernen erreicht werden soll, ist eben die Fähigkeit des Geschichtsbewußtseins, Sinn über Zeiterfahrung bilden zu können, um sich erfahrungsgestützt im Zeitverlauf der eigenen Lebenspraxis absichtsvoll orientieren zu können. Um eben dieser Fähigkeit willen, wird das Geschichtsbewußtsein in den mühsamen Prozessen menschlicher Individuierung und Sozialisation ausgebildet. Dieses oberste Lernziel, diese fundamentale Qualifikation, läßt sich in präziser Zuspitzung auf das, was es grundsätzlich heißt, historisch zu lernen, als ‚narrative Kompetenz‘ bezeichnen.“70
Geschichtsbewusstsein ist hier als „Inbegriff der mentalen Operationen“71 oder Bewusstseinstätigkeiten eines jeden Individuums zu verstehen, um sich über sinnbildende Zeiterfahrung72 im Umgang mit den Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu orientieren, indem es „sich auf Vergangenheit und Zukunft bezieht und beide in ein Verhältnis setzt“73. Zentral für dieses anthropologische Bedürfnis, sich zu orientieren74 – um durch immer wieder neu zu leistende zeitliche Orientierungsprozesse Kontingenzerfahrungen zu bewältigen75 –, zentral für diese „Grundausstattung menschlichen Denkens“76 ist laut Rüsen das historische Erzählen. Für ihn lässt sich historisches Lernen „als Bildung von Geschichtsbewusstsein durch Erzählen thematisieren“77. Dahinter steht die narrativistische Geschichtstheorie als „ein Ergebnis wissenschaftsphilosophischer wie fachdidaktischer Reflexionen und Forschungen zur Funktion von Geschichte für das Leben der Individuen und menschlicher Gesellschaften, zu den Bedingungen und Möglichkeiten, Prinzipien und Verfahren historischer Erkenntnis und zu den Formen und Funktionen historischen Wissens“78. Grundlegend dabei ist einerseits, dass historische Erkenntnis in Form von Geschichte immer eine narrative Struktur aufweist, also erzählt wird,79 und andererseits die erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Geschichte. Im Zusammenhang mit Zweiterem wird deutlich, dass auf der Grundlage dieses dem gemäßigten Konstruktivismus zuzuordnenden narrativistischen Geschichtsverständnisses zwischen der abgeschlossenen, unwiederbringlichen Vergangenheit einerseits und ihrer Re-Konstruktion in Form von Geschichten andererseits unterschieden wird.80 Vergangenheit steht hier also für die als solche nicht erfassbare Wirklichkeit früherer Zeiten und Geschichte für die notwendigerweise narrative Form, in der diese Vergangenheit partikular als Ergebnis historischer Denkprozesse auf vielfältige Weise dargestellt werden kann. Dies bedeutet eine Überholung der älteren Vorstellung, dass Geschichte ein ein für alle Mal feststehender, wenn auch durch Forschung erweiterter Bestand von deklarativem Wissen über die Vergangenheit ist. Das bedeutet auch, dass die prinzipielle Mehrzahl von (teilweise) konkurrierenden, aber triftigen81, also plausiblen Geschichten über die Vergangenheit (entgegen eines theorie- und methodenlosen Relativismus) anerkannt wird und somit als verbindlich gelten wollende Masternarrative zu hinterfragen sind.82
Bei allen Unterschiedlichkeiten in den Definitionen von Geschichtsbewusstsein83 – jedenfalls zu erwähnen ist hier noch Jeismanns Unterscheidung der drei Dimensionen „der Erkenntnisleistungen im Geschichtsbewußtsein“84 von „Analyse“, „Sachurteil“, „Wertung“85 als „drei Dimensionen historischen Lernens“86 – zeigt sich dahinter jedenfalls immer ein konstruktivistisches Geschichtsverständnis und eine Auffassung von Geschichtsbewusstsein als „dynamische Größe“ mit „mehrdimensionaler mentaler Struktur“87.
Kommt man wieder zurück zu Rüsens Definition von historischem Lernen als Befähigung des Geschichtsbewusstseins durch Erzählen, so bildet den Hintergrund dafür das vielfach rezipierte theoretische Modell historischen Denkens, in welchem idealtypisch sowohl in der alltagsweltlichen Lebenspraxis als auch im wissenschaftlichen Kontext ausgehend von Orientierungsbedürfnissen in der Gegenwart aufgrund von Kontingenzerfahrungen fragend die Vergangenheit (methodisch fundiert) erschlossen wird, um durch „narrativ geformten Sinn“88, also Orientierung stiftende Darstellungen, die Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft zu beziehen (als Beitrag eines gegenwärtigen Diskurses).