Historisches Lernen mit schriftlichen Quellen. Wolfgang Buchberger
Die zu erwartenden Ergebnisse der Untersuchung liefern nicht nur ein erstes Maß die Umsetzung fachspezifischer Kompetenzorientierung in österreichischen Schulbüchern betreffend, sondern besitzen darüber hinaus Relevanz für Lehre und Forschung von der Primarstufe bis zum Ende der Sekundarstufe II in Bezug auf eine domänenspezifische Kompetenzorientierung im Sachunterricht bzw. im Fach Geschichte und Sozialkunde/Politische Bildung sowohl in der Praxis als auch in der Aus- bzw. Fort- und Weiterbildung: In der Arbeit geht es um eine Verbesserung der kompetenzorientierten Quellenarbeit in unterschiedlichsten Bereichen, welche Auswirkungen auf theoretischer und praktischer Ebene haben kann. Außerdem können die Arbeitsergebnisse als Grundlage für weitere Forschungsprojekte im Bereich kompetenzorientierten historischen Lernens respektive für eine weitere Verbesserung von Schulbüchern bzw. den reflektierten Umgang mit ihnen dienen.
II.2 Forschungsstand zu Textquellen in Schulbüchern
Der für die vorliegende Arbeit relevante Forschungsstand zum Umgang mit Textquellen in Schulbüchern, v. a. Geschichtsschulbüchern, ist überschaubar. Es lassen sich zwar insgesamt einige geschichtsdidaktische Schulbuchanalysen ausmachen, die sich allgemeinen Aspekten von Schulbüchern widmen oder inhaltsbezogen ausgerichtet sind,32 allerdings soll an dieser Stelle kein umfassender Überblick über allgemeine geschichtsdidaktische Schulbuchanalysen gegeben werden – hier sind jedenfalls die Arbeiten von Bodo von Borries und Waltraud Schreiber et al. zu nennen33 –, sondern diejenigen näher beleuchtet werden, die exklusiv auf den Umgang mit Textquellen abzielen.
In einer 2013 entstandenen Arbeit an der Universidade do Minho in Braga beschäftigte sich Isabel Afonso u. a. mit Aufgaben zu historischen Quellen aus Geschichtsschulbüchern und den bei 112 Schüler*innen der 10. Schulstufe auftretenden Performanzen historischen Denkens im Rahmen von Quellenanalyse und -auswertung von Quellen zur Bildung im antiken Athen.34 Der Fokus liegt damit also auf der Anbahnung von fachspezifischen Kompetenzen durch Geschichtsschulbücher. In ihrer Untersuchung stellt Afonso fest, dass 15 % der Schüler*innen bei der Interpretation einer Quelle und 16 % bei der Interpretation mehrerer Quellen dazu in der Lage waren, ein umfassendes Verständnis der Quellenbotschaft zu vermitteln und dafür auch fachspezifische Konzepte heranzogen. 27 der 112 Schüler*innen bei Einsatz einer Quelle bzw. 22 Schüler*innen bei Einsatz mehrerer Quellen konnten nur ein anfängliches Verständnis der Quellenbotschaft zeigen und verwendeten kaum historische Konzepte; 13 der 112 Schüler*innen bzw. 22 Schüler*innen im Umgang mit mehreren Quellen gaben gar keine Antwort. 49 % der Schüler*innen bei Einsatz von nur einer Quelle bzw. 45 % der Schüler*innen bei Einsatz mehrerer Quellen zeigten ein angemessenes Verständnis der Quellenbotschaft unter angemessener Verwendung historischer Konzepte.35 Afonso verweist darauf, dass sowohl im Primar- als auch im Sekundarbereich durch Lernaufgaben Fähigkeiten geschult werden müssen, die über die einfache Reproduktion von Informationen hinausgehen, und dass darüber hinaus in diesem Zusammenhang Differenzierungsmöglichkeiten entscheidend sind bzw. dass die multiperspektivische Arbeit mit Quellen eine wesentliche Grundlage historischen Lernens darstellt.36
Speziell zum Umgang mit Textquellen im Rahmen einer explizit geschichtsdidaktisch ausgerichteten kategorialen Geschichtsschulbuchanalyse lassen sich außerdem die Veröffentlichungen von Teilergebnissen der vorliegenden Untersuchung durch den Autor dieser Arbeit nennen. So wurden bereits erste Ergebnisse zum Einsatz von Textquellen in österreichischen Lehrwerken für die Primarstufe vorgestellt, in denen deutlich wurde, dass Textquellen in Sachunterrichtsbüchern im Rahmen des historischen Lernens in der Primarstufe nach wie vor sehr rar sind und diese grosso modo illustrativ eingesetzt werden.37 Mit Fokus auf Perspektivität konnte in einem ausgewählten Untersuchungssample aus dem Korpus der vorliegenden Untersuchung für die Sekundarstufe – zwölf österreichische Geschichtsschulbücher aus drei Reihen, die von der 6. bis zur 12. Schulstufe durchgehend vertreten sind, zu den Untersuchungsabschnitten „Industrialisierung“ und „Zweite Republik Österreich“ – festgestellt werden, dass bei vielen Textquellen essentielle Informationen zu den Quellen, welche eine quellenkritische Herangehensweise erst möglich machen, nur bedingt oder gar nicht mitgeliefert werden, und dem geschichtsdidaktischen Prinzip der Multiperspektivität im Einsatz von Textquellen nur mangelhaft nachgekommen wird. Dies betrifft zum einen das Arrangement von Quellen im Verhältnis zueinander, aber zum anderen auch die geringe Anzahl an Lernaufgaben zu den Quellen insgesamt bzw. diejenigen Aufgabenstellungen, die explizit auf Perspektivität von Quellen abzielen.38
Darüber hinaus findet sich eine 2013 an der Universität Münster entstandene und publizierte Masterarbeit, in der auf kategoriale Weise Textquellen in neun deutschen Geschichtsschulbüchern der Sekundarstufe I in ausgewählten thematischen Kapiteln – römische Geschichte, Absolutismus und Aufklärung sowie Weimarer Republik – untersucht werden.39 Entlang eines deskriptiv-hermeneutischen Verfahrens wurden „Ausschlussindikatoren“ für Gütekriterien festgelegt, um die festgestellten Ausprägungen von Gütekriterien nachvollziehbarer zu gestalten.40 Die Ergebnisse der in dreistufigen Skalen kodierten Gütekriterien machen deutlich, dass besonders in Bezug auf die Kennzeichnung des epistemologischen Unterschieds zwischen Quelle und Darstellung, in Bezug auf „Gegenwarts- und Zukunftsbezogenheit“ sowie „Gelungene Arbeitsaufträge“ einige der Schulbücher optimiert werden sollten, wohingegen „Problemorientierung“ oder „Quellenkundliche Genauigkeit“ für das Sample insgesamt überwiegend positiv bewertet werden.41
Fasst man den Untersuchungsbereich etwas weiter und entfernt sich von geschichtsdidaktischen Schulbuchanalysen, so können mit Blick auf den Umgang mit Textquellen im historischen Lernen v. a. auch empirische Arbeiten zum Umgang von Schüler*innen mit Textquellen (im Unterricht) hervorgehoben werden. Insgesamt kann man aus diesen zahlenmäßig ebenso überschaubaren Studien eine Tendenz herauslesen, dass aus geschichtsdidaktischen Forderungen ableitbare Erwartungen an Ergebnisse schulischer Quellenarbeit bei den Proband*innen nur selten erreicht wurden.
In den Untersuchungen von Helmut Beilner und Martina Langer-Plän wird sichtbar, dass zum einen erhebliche inhaltliche Verständnisschwierigkeiten bei der Zusammenfassung von Quelleninhalten bestehen und zum anderen bei Schüler*innen der Quellenbegriff kaum bekannt ist, Verständnis für die Funktion von Quellen im historischen Erkenntnisprozess nahezu nicht vorhanden ist und in der 6. Schulstufe „alte Texte“ wahrer als heutige betrachtet werden.42 Untersucht wurde neben dem Quellenbegriff der Proband*innen, wie Schüler*innen der 6. und 9. Schulstufe die wichtigsten inhaltlichen Aspekte von auf den jeweiligen Unterrichtskontext abgestimmten Textquellen – Auszug aus Herodots Historien; Schreiben Bismarks an Wilhelm I. – zusammenfassen können, wie sie die zentralen Begriffe im Text verstehen und wie sie die Textinhalte mit historischem Kontextwissen verknüpfen. Dabei wurden die Verhaltensweisen bei der Begegnung mit Textquellen mittels Leitfadeninterviews (16 Schüler*innen der 6. Schulstufe) und schriftlicher Befragung (67 Schüler*innen der 6. Schulstufe und 54 der 9. Schulstufe) untersucht,43 um Hindernisse im Umgang mit Quellen zu identifizieren und daraus begründete Handlungsempfehlungen für den schulischen Unterricht abzuleiten.44 Ungeachtet der Beobachtung einer Steigerung bezüglich der Reflektiertheit des Quellenbegriffs zwischen 6. und 9. Schulstufe, wird