Chefarzt Dr. Norden Box 5 – Arztroman. Patricia Vandenberg
schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Stifte im bunt umhäkelten Stifteköcher tanzten.
»Weil Sie die nötigen Voruntersuchungen nicht durchführen ließen.« Sie ärgerte sich darüber, sich nicht im Griff zu haben. »Wie konnten Sie das tun?«
Lammers’ Ruhe war nervtötend. Er hob eine Hand und betrachtete seine frisch manikürten Fingernägel.
»Sparmaßnahmen. Anordnung von oben. Fragen Sie unseren Verwaltungsdirektor«, erwiderte er, als erzählte er ihr von einem Sonntagsausflug.
Fee atmete eine paar Mal tief ein und aus. Sie musste sich beruhigen. Schon ihrem Herzen zuliebe.
»Das ist längst nicht die einzige Sache, über die wir beide uns unterhalten müssen.« Der Stapel Papier in ihrer Hand raschelte, als sie damit durch die Luft wedelte. »Die Absage des Kongresses für alternative Heilmethoden. Die Stornierung diverser Fachzeitschriften. Die Retoure der von mir georderten Medikamente. Um nur einige zu nennen …«
Schritte und Stimmen auf dem Flur ließen sie innehalten. Ehe Lammers eine Antwort gefunden hatte, tauchten ein Mann und eine Frau in Blaumännern in der Tür auf.
»Herr Dr. Lammers, dachte ich es mir doch, dass Sie hier stecken. Dann wollen wir mal! Zeit ist schließlich Geld«, begrüßte die Handwerkerin den Arzt.
Im nächsten Atemzug zückten sie einen Zollstock.
Felicitas fühlte sich wie im falschen Film. Ihre Augen flogen von einem zum anderen.
»Einen wunderschönen guten Tag, die Herrschaften.« Sie erhob sich vom Stuhl.
Die Handwerker schienen sie erst jetzt zu bemerken. Fragende Blicke.
»Darf ich fragen, was das hier werden soll?«, fuhr Fee fort.
Die Frau im Blaumann sah zu Lammers hinüber.
»Wir vermessen dieses Büro. Es geht um den Umzug.«
Volker Lammers blickte zu Boden. Was für eine ungünstige Entwicklung. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Er räusperte sich.
»Ich glaube, das hier ist ein schlechter Zeitpunkt«, wandte er sich an die Handwerker.
Die beiden sahen sich an, unterhielten sich kurz flüsternd.
»Wie Sie wollen. Die Anfahrt müssen wir trotzdem berechnen.«
In diesem Moment hatte Felicitas genug.
»Klären Sie das draußen mit Herrn Lammers. Ich habe zu arbeiten.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte.
Gleich darauf fiel die Tür hinter den dreien ins Schloss. Selten zuvor war Fee glücklicher darüber gewesen, allein zu sein.
Sie fiel auf ihren Schreibtischstuhl, presste die Hände auf die Brust und schloss die Augen.
*
Schnuppernd hob Dr. Lekutat die Nase. Ein Duft nach Curry und Gebratenem zog durch den Flur. Er stammte aus einer Papiertüte mit chinesischen Schriftzeichen, die der Pfleger Sascha an ihr vorbei trug. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie sich nicht irrte.
»Hmmm, Zeit für Abendessen!«
»Das könnte Ihnen so passen!«
Die wütende Stimme ließ sie herumfahren. Auf der anderen Seite des Tresens stand, wieder einmal, Natascha Lichte. Bei ihrem Anblick vergaß Christine ihren Hunger.
»O Schreck! Sie habe ich ja total vergessen.«
»Das habe ich gemerkt. Was ist mit meinem Mann?« Ihre Stimme überschlug sich.
Selten bewegten sich Dr. Lekutats Finger so schnell über die Computertastatur wie in diesem Moment.
»Tut mir leid. Ihr Mann ist immer noch im OP.«
»Warum dauert das denn so lange? Es geht um eine Blinddarmoperation, keine Herztransplantation. Ein Routineeingriff, wie man mir glaubhaft versichert hat.« Bilder tauchten vor Nataschas geistigem Auge auf, die sie am liebsten vergessen würde. Ihr Vater nach der Operation, bleich, mit dunklen Ringen unter den Augen im Klinikbett. Kaum zu erkennen zwischen all den Schläuchen und Kabeln, Apparaten und Geräten. Sie wischte sich über die Stirn, als könnte sie damit die Bilder löschen. »Was ist passiert?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
»Sie wollten sich schon vor Stunden erkundigen.«
Irgendwo klingelte ein Telefon. Natascha beachtete es nicht.
»Wollen Sie nicht drangehen?«, fragte die Lekutat, froh, von ihrem Fehler ablenken zu können.
Natascha sah aus, als wollte sie über den Tresen gehen und sich auf Christine stürzten.
»Mein Mann wird gerade operiert, und niemand kann oder will mir sagen, was eigentlich los ist. Ich kann jetzt nicht telefonieren.« Ihre Hände zitterten, als sie das Mobiltelefon aus der Tasche zog. Sie musste drei Mal auf den Knopf drücken, bis es ihr gelang, es auszuschalten. »Ich hoffe nur, der Chef ist wirklich so kompetent, wie alle behaupten. Oder ist das auch nur eine billige Lüge?«
Was zu viel war, war zu viel. Dr. Lekutat stemmte die Hände in die Hüften.
»Eines kann ich Ihnen versichern: Es gibt für unseren Chef nichts Wichtigeres als seine Arbeit.« Ihre Augenbrauen hatten sich zusammengeschoben. »Soll ich Ihnen mal was sagen? Er steht sogar im OP, wenn seine Frau schwer krank ist.«
»Die arme Frau!«, schnaubte Natascha.
Christine lächelte schmal.
»Sollte er lieber seine Patienten im Stich lassen und Händchen halten?«
Natascha Lichte öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihre Augen irrten über den Tresen, bis sie schließlich am Blumenstrauß hängen blieben. Diesmal nahm sie ihn sogar wahr. Rote Rosen. Rot wie die Liebe. Rot wie Blut. Sie atmete tief durch.
»Es tut mir leid. Ich habe solche Angst um Tobias.« Ihr Blick kehrte zu Dr. Lekutat zurück. »So, und jetzt gehe ich selbst in den OP und sehe nach, was da los ist.« Sie wandte sich ab und wollte davon gehen.
Christines Lachen bremste sie.
»Glauben Sie wirklich, hier kann jeder in den OP spazieren, wie es ihm gefällt? Wenn Sie unbedingt Bekanntschaft mit unserem Sicherheitspersonal machen wollen, bitteschön! Aber das können Sie auch einfacher haben.« Sie hob den Telefonhörer. »Wollen Sie?«
»Nein, natürlich nicht.« Natascha kehrte an den Tresen zurück. »Aber was soll ich denn machen? Seit Stunden sitze ich hier und warte. Ich werde noch verrückt.«
»Sehen Sie. Und genau das ist der Grund, warum unser Chef im OP steht.« Christine lächelte der besorgten Ehefrau zu und wählte eine Nummer.
»Was machen Sie da?«, fragte Natascha.
»Ich bestelle uns etwas zu essen. Mögen Sie chinesisch?«
*
Das Erste, was Dr. Benjamin Gruber wieder hörte, waren Schritte. Sie eilten hin und her, verstummten manchmal.
Eine Schranktür klapperte. Die Schritte kehrten zurück. Seine Gedanken begannen zu wandern. Was war geschehen? Nach und nach sickerten Bilder in seine Erinnerung. Wie Aquarellfarben auf einem Blatt Papier breiteten sie sich aus. Blutrot.
Benjamin riss die Augen auf. Kerzengerade schoss er hoch. Schwester Ines schrie auf. Ein dumpfes Geräusch, gefolgt von Rascheln. Hunderte Verbandpäckchen rollten über den Boden. Dr. Gruber achtete nicht darauf. Er sprang von der Liege und lief aus dem Behandlungszimmer. Auf dem Gang sah er von links nach rechts. Ah, hier war er also, der Operationssaal nur zwei Türen weiter. Das Schild darüber leuchtete rot. Er stürzte los. Die automatischen Türen öffneten sich vor ihm. Im selben Moment streifte Dr. Daniel Norden die OP-Schürze samt Handschuhen ab und warf sie in den Wäschekorb. Im Vorraum des OPs herrschte rege Betriebsamkeit. Matthias Weigand stand am Computer und tippte etwas ein. Eine OP-Schwester schob einen Wagen