Chefarzt Dr. Norden Box 5 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Lichte, wenn Sie irgendwelche Bedenken wegen der Operation haben, können wir den Eingriff gern auf morgen früh verschieben und noch einmal alles in Ruhe durchgehen.«
Tobias lächelte.
»Das ist nett, aber wirklich nicht nötig. Ich weiß, dass ich bei Ihnen gut aufgehoben bin.«
Daniel erwiderte das Lächeln.
»Das ist sehr gut. Vertrauen ist für den Heilungsprozess ebenso wichtig wie der Eingriff selbst. Gemeinsam mit dem Kollegen Gruber werden wir das Kind schon schaukeln.« Er zwinkerte Tobias zu.
Ein kräftiger Ruck, und das Bett setzte sich in Bewegung.
*
Benjamin Gruber stand im Aufenthaltsraum der Ärzte und blickte hinab auf den Untersuchungsbericht des Augenarztes. In seine Gedanken hinein klingelte das Telefon. Eine Schwester informierte ihn, dass der Chef ihn im OP erwartete. Es wurde ernst.
»Ich bin schon auf dem Weg!« Benjamin legte auf. Bis gerade eben waren Blutdruck und Herzfrequenz halbwegs normal gewesen. Einen Wimpernschlag später war nichts mehr normal. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Herz machte jedem Schlagzeugsolo Konkurrenz. Doch es nützte nichts. »Los jetzt! Sonst kannst du dir wirklich einen anderen Job suchen.«
»Ist es schon so weit, dass sie Selbstgespräche führen?«
Benjamin musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer in der Tür stand. Er verdrehte die Augen. Warum klebte die Lekutat ausgerechnet heute an ihm wie eine Biene am Honigtopf?
»Ich habe telefoniert.« Er drehte sich um und zuckte gleich wieder zurück.
Christine stand so dicht hinter ihm, dass er um ein Haar mit ihr zusammengestoßen wäre. Er presste die Hand auf das Herz und schnappte nach Luft.
»Meine Güte, haben Sie mich erschreckt.«
»Gruber, Gruber, allmählich mache ich mir wirklich Sorgen über Sie.« Christines Blick fiel auf das Papier auf dem Tisch. »Sind das Casparis Ergebnisse?«
Benjamin wollte nach dem Blatt greifen. Doch die Lekutat war schneller. Sie überflog die Zeilen.
»Oh, oh, das sieht aber gar nicht gut aus.«
Benjamin Gruber schluckte.
»Finden Sie? Dr. Caspari meinte, es wäre alles im grünen Bereich.«
»Wie bitte?« Christine klopfte mit dem Zeigefinger auf eine Zahlenreihe. »Entschuldigen Sie mal! Das sieht ganz nach einem Gehirntumor aus.«
Benjamin verschluckte sich. Er hustete, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.
»Ich dachte, Sie sind auf meiner Seite«, krächzte er endlich. »Und jetzt kommen Sie mir mit einem Gehirntumor.«
»Na gut, grüner Star wäre auch denkbar. Auch nicht lustig.« Sie legte das Blatt zurück auf den Tisch. »Tut mir wirklich leid.«
Wieder klingelte das Telefon in seiner Tasche.
»Verdammt!« Das auch noch! »Dr. Norden wartet auf mich.« Er drängelte sich an Christine vorbei aus dem Zimmer.
»Heute scheint wirklich nicht Ihr Tag zu sein«, rief sie ihm nach.
Ihre Stimme vermischte sich mit seinen Schritten und verhallte auf dem Flur.
*
»Ja, natürlich weiß ich, wie wichtig dieses Konzert ist.« Natascha Lichte drückte das Telefon ans Ohr. Ihre Absätze klapperten Richtung Chirurgie. Ihre Stimme war so aufgeregt, dass sie sich der Aufmerksamkeit der Menschen in ihrer Nähe sicher sein konnte. Sogar der Reinigungsmann hörte auf zu wischen und sah hoch. »Aber manchmal gibt es Dinge, die wichtiger sind.« Sie lauschte in den Hörer. »Ich weiß auch nicht. Ich habe ein ungutes Gefühl. Als ob irgendwas nicht stimmt mit Tobias. Wir müssen das Konzert verschieben.« Sie war am Tresen angelangt und blieb dort stehen. »Ja, das ist mein letztes Wort.« Natascha lehnte sich neben den Blumenstrauß auf die Ecke der Theke. Tannengrün mit Misteln, Amaryllis und roten Rosen, Augenweide für Besucher und Personal, Trost für Patienten. Natascha hingegen bemerkte die Blumen noch nicht einmal. Sie konzentrierte sich auf das Telefonat. »Meine Güte. Stell dich nicht so an. Lass dir was einfallen! Wofür bezahle ich dich überhaupt, wenn ich alles selbst machen soll?«
Sie wartete nicht auf eine Antwort, drückte eine Taste und ließ den Apparat in der Umhängetasche verschwinden. »Entschuldigung. Manchmal ist es nicht leicht mit dem Personal.«
Dr. Lekutat sah von den Unterlagen hoch und nickte.
»Sie haben ja so recht.«
»Dann bin ich ja wenigstens nicht allein«, seufzte Natascha. »Können Sie mir sagen, ob mein Mann inzwischen operiert wird und wo ich auf ihn warten kann?«
»Kleinen Augenblick!« Dr. Lekutat rollte hinüber zu einem der Computer. Ein paar Tastenklicks später wusste sie Bescheid. »Ihr Mann ist gerade in OP 3. Den Gang hinunter und am Ende rechts. Dort finden Sie einen Aufenthaltsraum für Besucher. Sobald Ihr Mann fertig ist, bekommen Sie Bescheid.« Sie nickte der Besucherin zu und wollte sich wieder auf ihre Unterlagen konzentrieren.
»Können Sie mir sagen, wie die OP läuft?«
Christine sah Natascha an, als käme sie von einem anderen Stern. Was dachten sich die Leute eigentlich?
»Während eines Eingriffs? Wie stellen Sie sich das vor?«
»Na ja … Sie sind Ärztin … Bitte!«
Dr. Lekutat zögerte. Sie stemmte sich vom Stuhl hoch.
»Also gut. Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich verspreche nichts. Wir sehen uns im Aufenthaltsraum.«
Natascha sah ihr nach, wie sie auf kurzen Beinen davon wetzte. Das Bild einer Ente kam ihr in den Sinn. Schnell schob sie es beiseite. Immerhin tat ihr diese Ärztin einen großen Gefallen. Da durfte sie nicht undankbar sein.
*
»Da sind Sie ja, Gruber. Ich dachte schon, ich muss mir einen anderen Kollegen suchen.« Dr. Daniel Norden machte keinen Hehl aus seinem Ärger.
»Es … es tut mir leid. Heute ist einfach nicht mein Tag«, keuchte Benjamin. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn und stellte sich ans Waschbecken. Wasser spritzte. Der Geruch nach Desinfektionsmittel war nicht halb so angenehm wie der nach Orange und Zitrone. Doch dieses Vergnügen erwartete ihn erst nach der Operation.
Daniel Norden ließ sich von einer Schwester in den Operationskittel helfen. Er ließ den jungen Kollegen nicht aus den Augen.
»Das klingt nicht gerade vielversprechend. Soll ich die Leitung des Eingriffs übernehmen?«
»Nein, nein, ich schaffe das schon.« Benjamin stellte das Wasser ab und griff nach einem Handtuch.
Ein paar Minuten später stand er im Operationssaal. Fast erwartete er, Tobias Lichte mit Handy in der Hand anzutreffen. Natürlich schlief der Patient tief und fest.
»Er gehört euch!«, verkündete der Anästhesist Arnold Klaiber.
Dr. Gruber konzentrierte sich. Bis jetzt war alles gut. Kein Flimmern vor den Augen, das seinen Blick trübte. Dieser dämlichen Lekutat würde er es zeigen! Wild entschlossen, aus seiner ersten Operationsleitung einen vollen Erfolg zu machen, streckte er die Hand aus.
»Skalpell!«
Die Schwester folgte seinem Befehl. Er wog das Instrument in der Hand. Ein letzter Blick hinüber zum Chef. Die Haut um Dr. Nordens Augen kräuselte sich. Er nickte dem jungen Assistenzarzt zu.
Benjamin Gruber senkte den Kopf und setzte den Schnitt. Eine Weile arbeitete er schweigend. Nur das Piepen des EKGs und das Schnaufen des Beatmungsgeräts waren zu hören. Ab und zu klapperte ein Operationsbesteck in einer Nierenschale. Langsam beruhigte sich Dr. Grubers Herz. Konzentriert blickte er auf das Bild, das die winzige Kamera auf den Monitor über dem Operationstisch lieferte.
»Ich