Miss of the Match. Carina Isabel Menzel
setze mich und frage Sven so beiläufig wie möglich: „Und wie steht’s?“
Er sieht mich verwirrt an. „Was steht?“
Klar, von mir erwartet man als Letztes, dass ich mich für Fußballergebnisse interessiere. Aber irgendetwas ist passiert, als ich vor ein paar Minuten das Spiel mitverfolgt habe. Ich habe eigentlich noch nie ein Fußballspiel gesehen und konnte deshalb nicht wissen, dass es so spannend ist. Ich hatte immer Vorurteile, was Fußball betrifft. Langweilig, sinnlos, albern. Aber gerade eben musste ich feststellen, dass nichts davon stimmt. Ich habe mich so von meinen Vorurteilen blenden lassen, dass ich mich gar nicht habe überreden lassen, es auszuprobieren. Ich habe meine Abneigung zu sehr genossen, als dass ich riskieren wollte, dass sich meine Meinung vielleicht ändert. Was sie jetzt offenbar getan hat.
„Wie es steht. Das Spiel“, antworte ich fest. „Immer noch null zu null?“
Sven nickt etwas verwirrt. „Ja.“
Zu meiner Erleichterung kommt Marc in dem Moment an den Tisch. „Kommt jemand mit raus? Ich brauche frische Luft.“
Ihm ist wohl das Geschwafel unserer Cousinen auf die Nerven gegangen, die bei ihm am Tisch sitzen. Ich grinse. „Klar.“
Als wir wieder hineingehen, ist eine Tür im Flur geöffnet. Sie führt nach draußen. Es ist schon dunkel und das blaue Licht, das den Korridor erleuchtet, verrät mir, dass es da draußen einen Fernseher gibt. Ich bleibe stehen und spähe hinaus. Eine Gruppe Kinder sitzt auf Biergartenstühlen und starrt in einen winzigen, uralten Fernseher, der auf dem Fensterbrett steht. Es ist wohl so eine Art Hinterhof, denn auf der Tür steht Privat. Ich trete nach draußen. Es mieft leicht nach Kloake und Abfall und außer dem Fernseher gibt es kein Licht.
„Was schaut ihr da?“, frage ich die Kinder. Erst jetzt fällt mir auf, dass ein Junge ein Deutschlandtrikot trägt. „Ist die Halbzeitpause um?“, füge ich hinzu.
„Noch nicht“, meint der älteste, der vielleicht dreizehn ist. „Aber gleich.“ Fast automatisch setze ich mich auf einen noch freien Stuhl. Ist zwar nicht das beste Bild, aber besser als nichts. Während noch die Tagesschau läuft, füllt sich der Hinterhof. Immer mehr Gäste nutzen die Gelegenheit, um nicht mehr auf dem Handy schauen zu müssen.
Mein kleiner Cousin Clemens setzt sich auf meinen Schoß. „Deutschland gewinnt“, strahlt er.
„Noch ist nichts entschieden“, lache ich.
Als das Spiel weitergeht, ist der Hinterhof rappelvoll. Die Menschen stehen dicht an dicht, hocken auf dem Geländer und auf den Treppen, die in den Biergarten führen. Alle starren wie gebannt auf den winzigen Bildschirm. Eine Weile passiert nichts. Doch ich merke, wie ich mitfiebere. Ich lasse mich anstecken. Um mich herum schreien sie Namen, rufen Aufforderungen, fluchen, wenn ein Torschuss danebengeht. Bibbern, wenn die Ghanaer den Ball haben.
Und ich? Mache mit. Lebe das Spiel, als täte ich das schon seit Jahren. Ich wusste nicht, dass es so einfach ist. Dass man sich so leicht anstecken und mitziehen lässt. Dass man automatisch fiebert. Kiki und Sven hatten recht. Es ist eine Stimmung, die man nicht beschreiben kann. Man muss sie erleben. Und ich bin mittendrin.
Dann ein Tor. Es kommt unerwartet. Der Spieler bleibt mit ausgebreiteten Armen auf dem Feld stehen, die anderen kommen dazu, rennen ihn über den Haufen. Und wir schreien. Jubeln. Es fühlt sich gar nicht an wie mein erstes WM-Spiel. Ich jubele und springe auf, als wäre ich schon immer Fußballfan. Bin ich das überhaupt jetzt? Und wie. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, was an Fußball langweilig sein soll. Irgendwer umarmt mich. Ich erwidere die Umarmung, völlig gleichgültig, wer es ist. Alle strahlen sich an. Halten sich aneinander fest. Ein unglaubliches Wir-Gefühl herrscht hier. Auch Svens Geschwafel macht plötzlich Sinn. Wir sind alle ein Team.
Ghana erzielt zwei Treffer. Wir fluchen. Aber nicht lange, Deutschland holt auf. Die Stimmung wird wieder ausgelassener. Emma und ein paar andere, die sich noch drin aufgehalten haben, kommen raus und erkundigen sich nach dem Spielstand. Zwei zu zwei. Dabei bleibt es. Das Spiel geht zu Ende. Egal, wie sehr wir unsere Mannschaft anfeuern, es fällt kein weiteres Tor. Aber dieses Unentschieden bedeutet noch gar nichts, wie mir irgendwer erklärt.
Den Rest des Abends bin ich seltsam beschwingt. Ich habe etwas dazugelernt. Ich habe gelernt, wie toll dieses Wir-Gefühl ist. Selbst wenn mich dieser Sport nicht interessieren würde, ist da immer noch die Stimmung, die zeigt, dass wir alle zusammengehören.
Im Auto zur Jugendherberge wage ich nicht, Sven meinen Sinneswandel zu gestehen. Er und Marc unterhalten sich lautstark über das Spiel. Am liebsten würde ich genauso ausgelassen mitreden, aber ich weiß nicht, ob mein Freund gemerkt hat, dass ich das Spiel angeschaut habe, und es fällt mir seit jeher schwer, Fehler einzugestehen. Selbst jetzt ist es mir unangenehm, das gut zu finden, was ich gestern noch verteufelt habe. Ich würde Sven nur verwirren. Ich beschließe, weiterhin die Fußballhasserin zu spielen. Nebenbei ärgere ich mich, nicht zum Eröffnungsspiel gegangen zu sein. Wenn die Stimmung schon hier so toll war, wie gigantisch muss sie im Stadion sein?
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