Miss of the Match. Carina Isabel Menzel
Ich werde aus meiner Konzentration gerissen und räume verärgert mein Zeug zusammen. Ich glaube kaum, dass es einen Sinn hat, heute zu lernen. So wie es aussieht, wird Deutschland gewinnen und dann wird es so laut sein, dass ich meinen Prüfungsstoff sowieso vergessen kann. Ist das nicht langweilig, wenn ein Spiel so früh entschieden ist?
Ich stehe auf und beschließe, ins Bett zu gehen. Dann muss ich mich später nicht über den Krach ärgern. Wenn ich schlafe, bekomme ich das einfach nicht mit.
Doch leichter gesagt als getan. Nachdem ich mich gerade ausgezogen und ins Bett gelegt habe, wird anscheinend mit Fäusten an die Schlafzimmerwand, die direkt an die Nachbarswohnung angrenzt, getrommelt. Auftakt zum nächsten Jubelgeschrei. Das kann ja wohl nicht wahr sein! Meine Nachbarn haben offenbar beschlossen, dass Deutschlands Sieg nichts mehr im Wege steht, und beginnen schon damit, die Siegerparty zu feiern. Na großartig! Ich schließe die Augen und versuche, den Lärm irgendwie auszublenden, aber es geht nicht. Ich zähle Schäfchen, höre Musik und singe laut mit, aber das Gejubel drüben ist lauter. Ich kann meinen iPod so laut drehen, dass er mich warnt, ich solle meine Ohren schonen ‒ meine Nachbarn übertönen die Musik immer noch. Ich verziehe mich mit meinem Bettzeug in die Küche, das von der Nachbarwohnung am weitesten entfernte Zimmer. Ohne Erfolg.
Irgendwann wird das Spiel ja hoffentlich vorbei und die Fans müde sein. Ich lege mich wieder ins Bett und sage Formeln auf, bis es mir schließlich gewaltig stinkt. Die Party ebbt einfach nicht ab. Entschlossen stehe ich auf, schnappe mir im Gehen meinen Bademantel, werfe ihn über und marschiere zielstrebig auf die Tür nebenan zu. Dort ist der Krach fast unerträglich. Im Hausflur stehen mehrere leere Bierkästen, über die ich fast stolpere, vor der Wohnungstür meiner Nachbarn liegen zwei Pizzakartons. An dem Geruch erkenne ich, dass sie noch gefüllt sein müssen. Kommt davon. Wenn man so laut feiern muss, bekommt man eben nicht mit, wenn der Pizzabote klingelt. Warum der dann so dumm ist und die Pizzen nicht für seine eigene WM-Party wieder mitnimmt? Ich schüttele den Kopf. Wahrscheinlich hat er so viel zu tun, dass es ihm auf das eine oder andere Trinkgeld nicht ankommt.
Dann werden sie wahrscheinlich auch mich nicht hören. Egal. Versuchen kann ich es ja. Entschlossen drücke ich den Klingelknopf, so fest es geht. Nichts passiert. Noch einmal. Wieder nichts. Wütend haue ich mit beiden Fäusten gegen die Tür. Nach drei Versuchen wird die Tür endlich aufgerissen, dröhnende Musik und laute Stimmen kommen mir entgegen wie eine Flutwelle. Automatisch trete ich einen Schritt zurück. Ein junger Mann, vielleicht so alt wie ich, mit beflecktem Trikot, schief sitzender schwarz-rot-goldener Lockenperücke und Bierflasche in der Hand steht mir gegenüber.
„Ahh, Pizza is da!“, lallt er und bricht in schallendes Gelächter aus. „Kommsu auch rein? Willsu mitfeiern?“
Ich kann nichts erwidern, denn in dem Moment springt ein mindestens genauso betrunkenes Mädchen, ich schätze es auf das gleiche Alter, von hinten auf den Rücken des Mannes und kreischt: „Deutschland ist Weltmeister!“
„Tut mir wirklich leid, aber ich finde den Lärm, den Sie veranstalten, nicht angemessen, wenn Sie verstehen, was ich meine“, versuche ich es, obwohl ich weiß, dass diese Menschen ganz bestimmt nicht kapieren, was ich meine.
Das Paar starrt mich einen Moment lang verständnislos an, dann kichert das Mädchen hysterisch, lässt sich vom Rücken des Mannes gleiten, fährt sich durch die langen blonden Haare und hält mir seine Bierflasche hin. „Komm rein und schau den Rest vom Spiel mit uns an.“
Ich schüttele verärgert den Kopf. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Sie etwas zu laut sind. Ich würde gerne schlafen und ...“
Bevor ich meinen Satz zu Ende führen kann, drängelt sich Luisa, meine Nachbarin, die das Ganze hier organisiert hat, zwischen den Menschen hindurch. Sie ist immerhin schon Mitte dreißig und betrinkt sich nicht mehr ganz so haltlos. „Cynthia?“ Auch sie trägt ein Trikot und hat auf den Wangen Klebetatoos in Deutschlandfarben, etwas genervt schiebt sie die albern kichernde, junge Frau zur Seite. „Ist etwas?“
Ich komme mir unter ihrem besorgten Blick vor wie ein kleines Mädchen, das alleine daheim ist und die Anweisung bekommen hat, wenn es unter dem Bett spuke, sich an die liebe, nette Nachbarin zu wenden, die sicherlich helfen werde, die Gespenster zu vertreiben.
„Es ist sehr laut“, meine ich verärgert. „Ich würde gerne schlafen und ... ich habe morgen eine wichtige Prüfung“, füge ich flunkernd hinzu.
Luisa runzelt die Stirn. „Oh, das ... das tut mir wirklich leid, aber ...“ Sie sieht etwas ratlos aus. Als wolle sie sagen: „Ist ja schön und gut, dass du morgen deine Prüfung verkackst, aber wir wollen hier nun mal eine WM-Party feiern.“ Fehlt nur noch das Schulterzucken. „Muss halt sein.“
Ich schnaube entrüstet, bevor mir einfällt, dass sie gar nichts dergleichen gesagt hat.
Luisa sucht sichtlich bemüht nach irgendetwas Zuversichtlichem, das sie mir mitteilen kann. „Vielleicht kann ich meinen Gästen sagen, dass sie etwas leiser ...“
Von wegen. Plötzlich schwillt der Lärm wieder an und ich denke mir, dass die Gegner der Deutschen ja wohl nicht so blöd sein und noch ein Tor reinlassen werden, aber irgendwer brüllt: „Vier zu null!“, und mir wird klar, dass das Spiel vorbei ist, die Party allerdings gerade erst richtig anfängt. Schließlich muss man jetzt den Sieg feiern. Autohupen dringen von draußen herein. Irgendwer schmeißt eine Luftschlange in Deutschlandfarben direkt vor meine Füße und im Hintergrund sehe ich vier oder fünf trikotbekleidete Typen in einer Polonaise durch den Flur trampeln, während sie in einer völlig falschen Tonlage die deutsche Nationalhymne grölen.
Ich sehe ein, dass es wirklich keinen Zweck hat. „Ist okay. Vielleicht werde ich jetzt leichter einschlafen.“ Ich ringe mir ein falsches Lächeln ab. „Jetzt wo die größte Aufregung vorbei ist.“ Ich drehe mich auf dem Absatz um und gehe zurück zu meiner Tür.
„Gute Nacht!“, ruft Luisa mir noch hinterher, bevor sie die Pizzakartons reinholt und die Tür schließt.
Der Lärm wird augenblicklich etwas gedämpft, aber nicht lange und er kommt mir wieder genauso laut vor. Langsam beginnt mein Kopf zu dröhnen. Ich lehne mich entnervt und verzweifelt gegen die Wohnungstür. Diese WM macht mich jetzt schon krank.
*
5
„Es war unglaublich!“ Kiki sitzt auf meinem Bett, tippt auf ihrem Handy herum und sieht nur ab und zu davon auf. „Echt, ich freu mich so dermaßen aufs nächste Spiel. Nur glaub ich, dass es gegen Ghana schwieriger wird als gegen Portugal. Vielleicht verlieren wir sogar. Ich mein, wir haben gute Spieler, aber selbst wenn wir verlieren, können wir trotzdem noch Gruppenerster werden, kommt halt drauf an, wie hoch wir verlieren und ...“
„Kiki!“, unterbreche ich sie entnervt. Es sind schon zwei Tage vergangen seit dem Eröffnungsspiel, aber seitdem kennt sie kein anderes Thema mehr. Sie hat mir von jeder Sekunde der Eröffnungsfeier haarklein berichtet und jede Spielminute so oft durchanalysiert, dass ich mich mit diesem Spiel inzwischen wahrscheinlich besser auskenne als die, die es gesehen haben. Aber langsam geht mir ihr Geschwärme etwas auf den Keks. Allerdings ist es immer noch erträglicher als das von Sophie, die mir strahlend die einzelnen Spieler beschreibt und die „offizielle Spielerfrisur der WM“, die sie so sexy findet, und wer nach dem Spiel alles sein Trikot ausgezogen hat und wie sie die ganzen Spielerfrauen beneidet. Sie sitzt neben Kiki und starrt auf den laufenden Fernseher an der Wand, in dem Interviews gezeigt werden. Alle paar Minuten macht sie uns darauf aufmerksam, welcher unglaubliche Typ jetzt gerade wieder ein paar schlaue Sprüche von sich gibt.
„Such dir einen Freund, Sophie“, bemerkt Kiki. „Dann hört dieses peinliche Teenager-Getue vielleicht mal auf. Echt, du bist keine sechzehn mehr!“
„Peinliches Teenager-Getue? Komm erst mal aus dem Kindergarten raus!“, fährt Sophie sie plötzlich an. „Wer lässt sich denn immer noch mit seinem Grundschulspitznamen anreden, Kristina?“
Kiki grinst spöttisch. „Musst es ja nicht tun. Es zwingt dich niemand dazu.“
Ich