Miss of the Match. Carina Isabel Menzel

Miss of the Match - Carina Isabel Menzel


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Mutter nimmt mich am Arm und wir entfernen uns von den Männern, die sofort wieder in ihrem Element sind. „Das hatte ich befürchtet“, sagt sie kopfschüttelnd.

      „Und selbst wenn nicht, hat doch jeder ein Smartphone“, grinse ich. „Anderthalb Stunden wird da nichts laufen.“

      Meine Mutter lacht. „Wann ist denn das Spiel?“

      „Das fragst du mich?“ Ich muss ebenfalls lachen. „Ich habe keine Ahnung.“

      „Es freut uns natürlich sehr, dass ihr alle gekommen seid, um diesen besonderen Tag mit uns zu verbringen.“ Emma strahlt in die Fotolinsen, die auf ihr ruhen. Diese Rede, bevor das Buffet im Restaurant eröffnet wird, hat sie gestern Nacht mit meiner Hilfe geschrieben. „Schließlich wollen wir, Ricardo und ich, diesen Tag in besonders guter Erinnerung behalten. Und wie kann man etwas besser in Erinnerung behalten, als wenn man es gemeinsam mit den wichtigsten Menschen erlebt?“

      Vereinzelte Lacher. Ich bin froh, dass Emma nicht, wie sie gestern noch meinte, einen Zettel in den Händen hält. Sie befürchtete, sie könne sich diesen ganzen Text nie im Leben merken. Dafür klappt es ganz gut.

      „Ich erinnere mich noch gut an die erste Begegnung mit jedem Einzelnen von euch.“ Emma lächelt sehnsüchtig. „Teilweise war ich noch ganz klein, teilweise schon in der Schule oder noch älter. Und bei jedem von euch wusste ich von Anfang an: Du bist besonders. Du wirst einmal einer dieser wichtigen Menschen sein. Tja“, sie lässt ihren Blick über die Menge schweifen, „und jetzt seid ihr hier. Und ich hoffe sehr, dass ihr noch eine Weile hierbleiben werdet und diese Momente mit uns genießt.“ Sie nickt abschließend und grinst mir zu. Ich hebe triumphierend den Daumen.

      Ricardo räuspert sich kurz. „Ja, auch von meiner Seite den herzlichsten Dank. Es wurde eigentlich schon alles von meiner lieben Frau ‒ jetzt darf ich sie endlich offiziell so nennen ‒ gesagt. Ich wollte jedoch noch mal meinen Freunden danken, dass sie mich überredet haben, meinen Junggesellenabschied nicht gestern zu feiern ... sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich nicht hier. Zumindest nicht so wach.“ Er macht eine kurze Pause, um die Leute zu Ende lachen zu lassen. „Ich will euch alle jetzt nicht mit langen Reden quälen, genießt den Tag und das Essen ‒ das Buffet ist eröffnet!“

      Alle klatschen und die Ersten stürmen prompt nach vorne zum Buffet. Sven und ich warten, bis der größte Ansturm vorbei ist, und begeben uns dann nach vorne. Die Auswahl ist beinahe schon zu groß.

      „Ich glaube, ich probiere einfach von allem etwas“, verkünde ich meinem Freund, der genauso unschlüssig vor den herrlich duftenden Speisen steht.

      „Wie einfach war das, als man ein Kind war. Schnitzel mit Pommes und man war glücklich“, seufzt er.

      Ich muss lachen, drücke ihm im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange und lade mir das Erstbeste auf den Teller.

      Alles kann ich dann doch nicht probieren. Nach der zweiten Portion bin ich schon fast satt und Emma hat für später noch Nachtisch angekündigt, weswegen ich mich zusammenreiße.

      Mein Onkel hält eine lange, langweilige Rede und meine Tante flüstert mir angenervt zu, dass er sich ein bisschen zu gerne selbst reden hört. Sie wiederum trägt etwas später ein noch längeres, selbst verfasstes Gedicht vor, das mir beinahe noch langweiliger vorkommt. Trotzdem immer brav klatschen und lachen. Hochzeitszeitungen werden verteilt, und während Emma, zwei ihrer Schwestern und ich über den lustigen Gedichtchen, Kinderfotos und Rätseln sitzen, wird die Traube weißer Hemden um einen der Tische herum immer größer.

      Emma sieht auf. „Was machen die da?“

      Ihre Schwester Karoline seufzt. „Was wohl?“

      Kathrin, die dritte im Geschwisterbunde, schiebt sofort ihren Stuhl zurück. „Hat es schon angefangen?“ Sie wirft einen Blick auf ihre mit Perlen besetzte Armbanduhr und springt auf. „Ach, Mist, jetzt hab ich den Anpfiff verpasst.“ Sie drängelt sich zwischen den Männern durch bis nach vorne zum Tisch und ruft uns zu: „Null zu null!“

      „Hat ja auch gerade eben erst angefangen“, meint Emma schmunzelnd und blättert die Zeitung um. „Ich glaube kaum, dass es wieder zwei zu null nach der ersten Halbzeit steht.“

      „Kommen sie weiter, wenn sie gewinnen?“, fragt Karoline, die genauso viel Ahnung von Fußball hat wie ich.

      Emma sieht sie kichernd an. „Mann, Karoline, das entscheidet sich doch jetzt noch nicht.“

      *

      7

      Anscheinend ändert sich das Ergebnis nicht so schnell. Emma und Ricardo bekommen noch ein paar Showeinlagen von Freunden und Familie geboten und irgendwann setzt sich Großtante von mir, die ich vielleicht zweimal in meinem Leben gesehen habe, neben mich. Allerdings weiß ich, dass sie für ihre Anhänglichkeit berüchtigt ist, und entschuldige mich, kaum dass sie neben mir sitzt und Luft geholt hat, damit, ich müsse meinen Freund suchen.

      Tatsächlich kann ich Sven nirgendwo entdecken, und nachdem ich an allen Tischen war, begebe ich mich schweren Herzens zu der Tafel in der Mitte, an der inzwischen noch mehr Leute stehen und wie hypnotisiert auf ein Smartphone starren, das jemand aufgestellt hat. Sven ist unter den Zuschauern.

      Ich stoße ihn sanft an. „Spannend?“

      Er nickt nur. Dann stöhnen sie alle auf und fluchen, als hätte man ihnen sonst was verkündet. Mein Blick wandert zum Display.

      „Eine gute Chance“, schreit der Moderator, „eine gute Chance, aber verspielt ...“

      Eine Wiederholung wird gezeigt, der Ball prallt am Pfosten ab. Ich muss mich anstrengen, damit ich überhaupt etwas erkenne, auf dem Minibildschirm kann man kaum die Spieler vom Rasen unterscheiden, mal abgesehen davon, dass das Internet offensichtlich wieder mal überlastet ist, es hier höchstwahrscheinlich auch kein freies WLAN gibt, das Bild andauernd stehen bleibt und sowieso nicht gerade das beste ist.

      Unschlüssig, was ich tun soll, bleibe ich stehen und versuche, den Ball zu erkennen. Der Moderator ruft Namen durch die Gegend, mit denen ich nichts anfangen kann. Trotzdem erwische ich mich dabei, dass ich den Ball verfolge, wie er von Spieler zu Spieler wandert, über den Rasen, von einem Gegner abgefangen wird. Um mich herum werden sie wieder zappelig, dann eine Torchance für den Gegner, Ghana, glaub ich. Alle starren auf das Handy und da ... gehalten. Alle atmen auf. Ich auch. Warum? Was wäre schlimm daran gewesen, wenn der Ball ins Tor gegangen wäre?

      Das Spiel geht weiter und ich bleibe stehen. Es hat eine seltsame Anziehungskraft, ich kann meinen Blick nicht mehr vom Display lösen. Ich muss auf die Toilette, aber ich zwinge mich zu bleiben. Es könnte ja etwas passieren, ich könnte die entscheidende Situation verpassen, in der ein Tor fällt ...

      Moment, entscheidende Situation? Ich denke wie einer dieser fußballverrückten Typen um mich herum. Entscheidende Situation ... lächerlich. Was soll so ein Tor schon entscheiden? Über Leben und Tod?

      Ich beschließe, mich aus der Menge zu lösen und endlich aufs Klo zu gehen. Hastig drängele ich mich zwischen den Männern hindurch.

      Im Waschraum kommt mir Kathrin entgegen. „Ist was passiert?“

      „Nein. Immer noch null zu null“, antworte ich.

      „Gut.“ Kathrin wirkt erleichtert.

      Ich sehe ihr hinterher, als sie nach draußen geht. Woher wusste ich, was sie meinte, als sie sagte: „Ist was passiert?“ Sie hätte sich schließlich auf alles beziehen können. Warum war mir klar, dass es um das Spiel ging? Sicher, was sollte hier auch sonst passieren? Was sollte sie anderes interessieren als das Spiel?

      Warum versuche ich überhaupt, mir das Ganze auszureden? Warum lasse ich mich nicht einfach gehen, warum baue ich Mauern auf, die mich einschränken, nur weil ich das, was sie vor mir versperren, noch nie in Betracht gezogen habe? Ich habe mich noch nie für Fußball interessiert ‒ wer sagt, dass es immer so bleiben muss?

      Etwas


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