Miss of the Match. Carina Isabel Menzel
mich nur noch mehr. Genau wie ich diese dämlichen Karten mit den einzelnen Spielern überall herumfliegen sehe, auf der Straße, in der Uni, selbst wenn ich meinen Cousin Clemens vom Kindergarten abhole, kommen die kleinen Kinder auf mich zugerannt. „Hast du den und den ...“
Die Kassiererinnen im Supermarkt, in dem man die Dinger ab zehn Euro Einkaufswert geschenkt bekommt, wissen inzwischen, dass sie mich gar nicht erst fragen müssen, wenn sie kein barsches „Nein, ich sammel den Scheiß nicht“ hören wollen.
Mal ehrlich: Welcher Idiot hat sich ausgedacht, dass die Fußball-WM dieses Jahr in Deutschland ausgetragen werden muss? Ich bin schon froh, dass ich diesen albernen Hype nur alle vier Jahre ertragen muss, wenn im Radio die aktuellen Lieder nur noch zu Fußballhymnen umgedichtet laufen, wenn im Fernsehen auf allen Kanälen nur über Stadien diskutiert, Spiele analysiert und verschwitzte Fußballspieler interviewt werden, wenn überall Plakate herumhängen und alles, was es irgendwo zu kaufen gibt, irgendwie mit Fußball angepriesen wird, und wenn sich kein originelles Wortspiel mit Fußball oder WM daraus basteln lässt, zumindest von einem Nationalspieler beworben wird. Ich hoffe jedes Jahr, dass Deutschland möglichst früh rausfliegt (was es leider eigentlich nie tut), damit wenigstens das größte Chaos vorbei ist. Aber dieses Jahr ist es einfach furchtbar. Wenigstens hat man nicht angefangen, Stadien zu bauen, aber es reicht ja auch nicht, die Mannschaften aus der ganzen Welt in einfachen Hotels unterzubringen, nein, es wurden Millionen rausgeworfen, um wahnsinnige Anlagen zu bauen, jede einzelne mit eigenem Trainingsplatz, mehreren Pools und Schlafzimmern, wie sie nicht mal in den teuersten Hotels zu finden sind. Wirklich, das Geld könnte man auch anders verwenden. Bei uns in Deutschland ist es zwar kein so vieldiskutiertes Theam, weil es keine Slums oder so gibt, aber trotzdem.
Seit Anfang des Jahres kennt Berlin kein anderes Thema mehr als die anstehende WM. Schon im Januar haben die Sportmoderatoren im Fernsehen hitzige Diskussionen über den diesjährigen Weltmeister geführt und die Bäcker haben schon zur Faschingszeit angefangen, ihre Brötchen in Fußballform zu backen. Und spätestens seit dem Sommeranfang sind alle am Durchdrehen. Ich habe das Gefühl, mich in einem Meer aus Schwarz-Rot-Gold zu befinden, wenn ich durch die Innenstadt gehe. Fahnen in diesen Farben werden ja bei jeder WM aus den Fenstern gehängt, aber ich glaube, dieses Jahr ist die Zahl sogar noch um das Dreifache gestiegen.
Ich drücke ein paar Knöpfe am Radio, weil der Reporter wieder anfängt, über irgendwelche Strategien des Trainers zu fachsimpeln, und wechsle auf den Klassiksender. Die sprechen wenigstens über Menschen, die wirklich zu etwas fähig waren, zum Beispiel Bach, und nicht über Typen, die einen Ball neunzig Minuten über den Rasen kicken, versuchen, ein Tor zu treffen, ab und zu rumschreien, andere umrempeln und sich dabei noch besonders intelligent vorkommen.
Während Händels Wassermusik durch mein Wohnzimmer dudelt, staubsauge ich und räume etwas auf, dann nehme ich aus einem der Umzugskartons das nächstbeste Buch, setze mich auf die ausgepackte Hälfte des Sofas und lese mit dem Licht der nackten Glühbirne an der Decke, bis sich die ersten Sonnenstrahlen den Weg durch die Fenster suchen und ich endlich zu meinem normalen Morgenprogramm übergehen kann.
*
2
„Kiki, ich hör dich nicht, ich bin auf dem Weg zur Bahn, verdammt!“
Das Hupen eines Autos direkt hinter mir verschluckt die Antwort meiner besten Freundin. Ich zwänge mich, das Handy an mein Ohr gepresst, durch den dichten Berufsverkehr in Richtung Bahnhof Zoo. In drei Minuten geht meine Bahn, und wenn das Gedrängel auf der Straße vor mir nicht bald lichter wird und sich für mich irgendwo eine Möglichkeit ergibt, zwischen den ganzen hupenden Autos hindurch einen Weg auf die andere Straßenseite zu finden, kann ich zwanzig Minuten dumm rumstehen und auf die nächste warten.
„Kiki, hör mal, ruf mich später noch mal an, ich ...“
Ha, jetzt. Eine Lücke. Ich beeile mich und hetze auf die andere Straßenseite, ohne die verärgerten Gesichter der Autofahrer zu beachten. Auf dem Gehweg angekommen werfe ich einen Blick auf die Uhr und beschleunige meine Schritte. Noch zwei Minuten.
„Ich wollte einfach wissen, ob du heute Mittag mitkommst!“, brüllt Kiki mir ins Ohr.
Ich beachte die rote Ampel zwischen mir und dem Bahnhofsgebäude nicht und beginne zu rennen, klemme mir das Handy zwischen Schulter und Ohr und krame gleichzeitig in meiner Tasche nach dem Ticket. „Kommt drauf an, wohin“, antworte ich und quetsche mich unsanft durch eine Gruppe Rocker, die den Eingang blockiert. Einer pfeift mir hinterher, doch ich beachte ihn nicht.
„Na ja, ich muss noch ein paar Einkäufe erledigen ...“ So wie Kiki klingt, weiß sie genau, dass ich absagen würde, wenn ich wüsste, was für Einkäufe sie wirklich zu erledigen hat. Wahrscheinlich wieder irgendeine Messe, auf die niemand mitwill und die wieder an mir, ihrer besten Freundin seit der zehnten Klasse, hängen bleibt. Na danke.
„Von mir aus. Ich ruf dich in einer halben Stunde noch mal an.“
Ohne auf Kikis Antwort zu warten, beende ich das Telefonat, stecke das Handy in meine Hosentasche und komme gerade rechtzeitig zum Bahnsteig, als die Bahn abfährt.
„Mist“, fluche ich und lasse mich auf einen der blauen Metallsitze sinken, die jetzt, da fast alle Passanten in der Bahn sind, endlich mal frei sind.
Neben mir sitzt eine kleine Gruppe Teenagermädchen mit Schultaschen, die sich zu viert über eine Zeitschrift beugen. Zwei kichern unentwegt, während eine andere nur leicht gelangweilt danebensitzt und frustriert wirkt. Die vierte, die das Heft in der Hand hält, zählt etwas an ihrer Hand ab und ruft jetzt genervt: „Jetzt seid doch mal leise, Mann, ich muss mich konzentrieren!“
Ich lasse meinen Blick zu dem Heft wandern. Welche Spielerfrau wärst du?
Oh Gott, Himmel hilf. Ich schüttele nur den Kopf und sehe wieder weg. Mein Blick bleibt an einer riesigen Werbetafel hängen, die mir gegenüber über den Gleisen hängt. Chipswerbung. Und dem Trikot nach zu schließen, ist der Typ, der die Tüte Championchips breit grinsend in die Kamera hält, einer der deutschen Fußballspieler.
Das bemerkt wohl auch gerade das frustrierte Mädchen neben mir, die wahrscheinlich nicht als Spielerfrau ihres Lieblingsspielers auserkoren wurde, denn auf einmal wird sie ganz aufgeregt und macht ihre Freundinnen auf das Plakat aufmerksam, die daraufhin in ein dreistimmiges hysterisches „Oh, mein Gott!“ ausbrechen.
Es wird mir zu dumm. Ich stehe auf und stelle mich zu einer Reisegruppe Senioren, die etwas weiter abseitsstehen. Vielleicht nerven die mich nicht mit ihrem Fußballgetue.
„Das schaffen die nie, ich sag’s dir. Im eigenen Land mit so einem Trainer. Ich sag’s dir, Adelheid, damals 1974 ...“
Das gibt’s doch nicht! Am liebsten hätte ich geschrien. Entschlossen packe ich meinen iPod aus, um für den Rest der Wartezeit etwas anderes zu hören.
„Noch zwei Tage, meine Herrschaften, ist das nicht ein wunderbarer Gedanke?“ Professor Schelm strahlt die Menge gelangweilter Studenten an, die sich jetzt, da er von seinem eigentlichen Thema, der Translation der Aminosäuren, abgeschweift ist und auf die Weltmeisterschaft zu sprechen kommt, in ihren Bänken etwas aufrichten und interessiert nach vorne zum Rednerpult sehen. Nur ich werde noch gelangweilter. „Die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land“, der Professor streicht seinen weißen Kittel glatt, den er eigentlich nur anhat, um schlauer zu wirken, „ist eine Ehre für uns alle, nicht wahr? Es ist mit das größte Ereignis in eurem bisherigen Leben, oder? Ich meine, die WM wurde natürlich schon in Deutschland abgehalten, aber es ist doch einfach wunderbar, sich auf ein derartiges Ereignis freuen zu können, habe ich recht?“
Auf allen Seiten wird begeistert auf die Tische geklopft. Professor Schelm tritt hinter seinem Pult hervor und fährt sich durch die wenigen silbergrauen Haare, die er noch auf dem Kopf hat. Er rückt seine Brille zurecht und sein Blick wandert durch die Reihen.
„Wir alle werden natürlich hinter unseren Spielern stehen, nicht wahr?“
Das ist eine der Sachen, die ich an unserem Professor nicht