Miss of the Match. Carina Isabel Menzel
sind die Antwort.
„Natürlich ist Fußball ein Sport und Sport ist anstrengend, auch für den Körper, oder?“ Er grinst nun übers ganze Gesicht und ich ahne schon, was jetzt kommt.
Jennifer neben mir offenbar nicht, denn sie beugt sich rüber, wobei ihre zehntausend Armreifen klimpern, und flüstert mir begeistert zu: „Endlich mal ein Thema, das alle interessiert.“
Ha, danke. Ihr betörendes Vanilleparfum hüllt mich ein und ich muss niesen.
„Gesundheit!“, kommt es aus mehreren Ecken.
Sie sind echt alle wach, kaum hat jemand das Thema WM angesprochen. Unglaublich.
Herr Schelm nutzt es aus. „Sie wissen gar nicht, was genau im Körper beansprucht wird, wenn er solchen Leistungen ausgesetzt ist, oder?“ Er hat seinen Vortrag beendet und begibt sich wieder hinters Pult, wo er seinen Zeigefinger anfeuchtet und eine Seite in seinem Ordner umblättert, bevor er uns wieder ansieht. „Doch genau das werden Sie jetzt erfahren.“
Ich muss grinsen und diesmal bin ich diejenige, die sich interessiert aufrichtet. Ich hab’s gewusst. Allgemeines Stöhnen macht sich breit. Die Studenten sinken wieder tiefer in ihre Sitze. Jennifer neben mir sieht ernsthaft beleidigt aus.
„Superüberleitung, Professor!“, erlaubt sich jemand, voller Ironie zu rufen.
Der Professor hebt die Schultern und tippt auf das Papier vor sich. „Wir sind hier schließlich nicht ausschließlich zum Spaß.“
Meine Füße sind eingeschlafen. Ich wackele mit den Zehen, um die Taubheit zu vertreiben. Kiki neben mir wippt ungeduldig auf der Stelle auf und ab.
„Können die nicht ein bisschen hinmachen?“, motzt sie. „Warum lassen die nicht einfach mehr Leute rein? Haben die Schiss, wir rennen uns da drin gegenseitig über den Haufen?“
„Es war deine Idee hierherzukommen“, gebe ich zurück.
„Zum Glück. Das hätte ich komplett vergessen.“ Rafael sieht von seinem Smartphone auf, auf dem er zum Zeitvertreib irgendein schwachsinniges Spiel spielt. Natürlich in der WM-Edition.
„Du hättest es spätestens dann gemerkt, wenn du am Sonntag ohne dagestanden wärst.“ Sophie lacht und wirft ihre Haare zurück. Auch sie wirkt ungeduldig und trommelt mit den Fingern auf den Pfeiler neben sich.
Ich muss ebenfalls grinsen. Normalerweise habe ich nichts dagegen, etwas mit meinen Freunden zu unternehmen, aber heute hätte ich gut und gerne daheimbleiben können. Trikots shoppen können sie auch ohne mich. Aber nein, ich muss unbedingt mit, als Beraterin. Meiner Meinung nach ist es sowieso völlig schwachsinnig, sich für neunzig Euro eines dieser unförmigen Dinger zu kaufen, mal davon abgesehen, dass man sie eh nie anziehen kann außer zur WM- oder EM-Zeit, ohne komisch angesehen zu werden. Und was hat man davon, wenn Deutschland tatsächlich gewänne, ein ungültiges Trikot mit einem Stern zu wenig auf der Brust zu besitzen? Okay, die Antwort meiner Freunde kenne ich sowieso: neues kaufen.
Schon alleine das hier würde mich davon abhalten. Wir stehen seit zwanzig Minuten in einer Schlange, die zweimal um das Gebäude herumführt, nur um in diesen Laden reinzukommen, der sich WM-Store nennt. Er hat bestimmt drei Stockwerke und extra zur Weltmeisterschaft mussten mehrere Geschäfte ausziehen. Jetzt hängen draußen Plakate von der Nationalmannschaft, dem Maskottchen und den Stadien, sodass man nicht ins Innere sehen kann. Kiki hat sich geweigert, ihr Trikot im Internet zu bestellen, weil sie Angst hat, es könnte nicht rechtzeitig zum Eröffnungsspiel da sein, deswegen sind wir hier und vor uns stehen noch mindestens dreißig Leute. Die Schlange scheint nicht kürzer zu werden und es darf immer nur eine begrenzte Anzahl Kunden in den Store, in dem übrigens nicht nur Trikots verkauft werden, sondern laut Kiki alles, was etwas mit der WM zu tun hat. Sie hat mir vorhin gesagt, dass sie sich geschworen hat, nur ein Trikot zu kaufen und sonst nichts, denn wahrscheinlich würde sie da drin verführt werden, alles einzutüten.
„Was wird hier eigentlich verkauft, wenn keine WM ist?“, frage ich in die Runde.
„Nichts. Dann lebt der Typ, dem das gehört, von seinen Zinsen“, antwortet Rafael, ohne aufzusehen. „Der ist der Einzige, der Trikots im Laden verkauft. Was glaubst du, was der für einen Umsatz macht?“ Ich schüttele den Kopf. Oh Mann.
Nach weiteren zwanzig Minuten sind wir endlich vorne in der Schlange und werden von einem Typen im Deutschlandtrikot eingelassen. „Willkommen im Paradies“, grinst er, hält die Tür auf und ich frage mich, ob er den ganzen Tag über überhaupt etwas anderes sagt und ob ihm dieses Dauergrinsen nicht langsam wehtut. Neben ihm steht ein als WM-Maskottchen verkleideter Mensch ‒ ein ziemlich lächerlicher, knallbunter Igel im Trikot ‒ und winkt affig.
„Alter Schwede!“, staunt Rafael, nachdem wir den Laden betreten haben.
„Oh mein Gott!“, kreischt Sophie begeistert, während Kiki einfach nur dasteht und sich überwältigt umblickt. Selbst ich bin für einen Moment sprachlos.
Das Geschäft scheint sich in die Unendlichkeit zu ziehen. Und alles, was man sich zu einer Fußballweltmeisterschaft nur wünschen kann, türmt sich um herum und vor mir auf. Angefangen bei Trikots. Die Kleidung von so ziemlich jedem Team der Welt ist hier zu finden, ordentlich sortiert nach Shirts, Hosen, Strümpfen, Trainingsjacken und Schuhen. Besonders teuer sind die Matchworn-Trikots, getragene Trikots der Nationalspieler. Hoffentlich sind die wenigstens gewaschen. Wahrscheinlich nicht. Das war’s auch schon mit bunt, sonst ist alles in drei Farben gehalten: Schwarz. Rot. Gold. Regale bis zur Decke voller Fanartikel. Flaggen fürs Auto und Überzieher für die Außenspiegel. Perücken in allen Größen und Formen. Etwas weiter hinten Wände voller Blumenketten. Noch weiter hinten Tröten und Kastagnetten, Pfeifen und Trommeln. Wir stehen auf Kunstrasen und direkt neben dem Eingang wird Torwandschießen, Tischkicker, Human Soccer oder FIFA angeboten, über etliche Fernseher flimmern Aufzeichnungen der deutschen Nationalmannschaft bei den letzten Weltmeisterschaften. Die Mitarbeiter tragen alle eigene Trikots mit ihrem Namen auf dem Rücken. Die Menschen sind beladen mit Fanartikeln, Kinder rennen begeistert durch die Gegend, schreien ausgelassen und wedeln mit ihren Errungenschaften.
„Wahnsinn“, haucht Kiki. „Los, sehen wir uns um.“
Im zweiten Stockwerk geht es genau so weiter. In Kühlregalen, die sich über die ganze Wand ziehen, stehen ordentlich Cola- und Bierdosen sowie -flaschen, signiert von den deutschen Spielern und Trainern. Überall Plakate und Pappaufsteller mit den einzelnen Typen in Trikots, die auf die Menschenmassen, die überall stehen und staunen, herabblicken. Das hier scheint eine Art Lebensmittelabteilung zu sein, denn etwas weiter hinten finden wir Gummibärchen, Kekse und alles erdenklich Essbare in Fußballform und Schwarz-Rot-Gold.
Ein Stockwerk höher gibt es Stuhl- und Sofabezüge. Bettwäsche. Handtücher. T-Shirts, sogar Cocktailkleider und High Heels in den Deutschlandfarben. Geräumige Umkleiden bieten Platz zum Anprobieren. Aus Hunderten Lautsprechern schallen Fußballlieder und WM-Hymnen und die ausgelassenen Besucher grölen laut mit.
Der vierte Stock ist noch geschlossen. Laut Kiki finden dort während der WM Public Viewing und anschließend (wenn das Spiel gewonnen wurde) Partys statt.
Wir verbringen mehrere Stunden nur damit, uns umzusehen und die einzelnen Dinge zu bestaunen. Ich bin völlig überwältigt von dem Ganzen, sodass ich komplett vergesse, dass es etwas mit Fußball zu tun hat. Sophie bringt mich sogar dazu, eines der Cocktailkleider anzuprobieren, von denen sie sich später eines kauft, und Kiki zwingt mich, ein Trikot anzuziehen und davon Bilder in der Umkleidekabine zu schießen. Als Beweis, dass ich auch mal ein Trikot anhatte.
„Wenn sie erst mal Weltmeister sind, wirst du stolz darauf sein“, behauptet sie.
Wir stehen ewig vor den Kühlregalen, weil meine Freunde exakt die Coladosen mit den Unterschriften ihrer Lieblingsspieler haben wollen, aber sie sind nicht die Einzigen, die die Regale aus- und umräumen, bis sie die richtigen Dosen gefunden haben. Die passenden Trikots sind schnell gefunden, und als wir am Abend das Gebäude verlassen, schleppen Rafael, Sophie und Kiki ganze Tüten voller Fanzeugs mit nach Hause - so viel zum