Letzte Fragen. Thomas Nagel
in diesem Falle ist man also in moralischer Hinsicht in einer Weise dem Zufall ausgeliefert, die bei näherem Nachdenken irrational scheinen kann – und doch wären unsere gewohnten moralischen Haltungen und Einstellungen ohne dieses Phänomen ja schwerlich wiederzuerkennen! Wir werten Menschen allemal nach ihren tatsächlichen Handlungen und Unterlassungen, und nicht bloß danach, was sie getan hätten, wären die Lebensumstände andere gewesen.9
Auch diese Form des moralischen Bestimmtseins durchs Faktische ist paradox; aber wir beginnen zu begreifen, wie tief die Paradoxie im Begriff der Verantwortlichkeit selbst verwurzelt sein muß. Ein Mensch kann nur für das, was er begeht, moralisch verantwortlich sein; aber was er begeht, resultiert aus sehr vielen Umständen, für die er nichts kann. Mithin kann er moralisch nichts für das, wofür er sowohl etwas kann als auch nichts kann. Das ist nicht irgendeine Kontradiktion, sondern es handelt sich tatsächlich um eine echte Paradoxie.
Es sollte auf der Hand liegen, daß ein Zusammenhang gegeben ist zwischen dem Problem der Verantwortlichkeit und Kontrolle auf der einen Seite und dem uns noch besser vertrauten traditionellen Problem der Willensfreiheit auf der anderen. Und damit wäre der letzte Typus moralischer Kontingenz erreicht, den ich ansprechen möchte, allerdings kann ich im Rahmen dieses Essays nurmehr die Zusammenhänge zwischen diesem und den anderen Typen moralischer Kontingenz andeuten.
Kann einer nichts für all die Handlungsfolgen, die sich seiner Kontrolle entziehen, sowie ebensowenig etwas für jene Anfangsbedingungen des Handelns, die seine nicht willkürlich kontrollierbaren Charaktereigenschaften ihm vorgeben, und schließlich auch nichts für die Umstände, die ihn vor moralische Entscheidungen stellen, wie kann er dann auch nur für die nackten Willensakte etwas können, wenn diese ja ihrerseits das Produkt von Voraussetzungen sind, die außerhalb der Kontrolle des eigenen Willens liegen?
Der Bereich des Handelns im eigentlichen Sinne und damit auch der Bereich legitimen moralischen Wertens scheint bei genauerem Hinsehen geradezu auf einen ausdehnungslosen Punkt zusammenzuschnurren. Alles und jedes scheint sich aus dem Einfluß einander ergänzender und zusammenwirkender Faktoren zu ergeben, die dem Handeln entweder vorausliegen oder erst nachträglich wirksam werden, und die der Akteur nicht kontrollieren kann. Da er aber für diese Faktoren nichts kann, kann er folglich auch nichts für deren Auswirkungen – wenngleich es möglich bleiben mag, sich nunmehr ästhetische oder andere wertende Analoga zu den auf diese Weise verbannten moralischen Einstellungen zu eigen zu machen.
Man könnte die Angelegenheit natürlich auch aussitzen wollen und sich frech weigern, die Ergebnisse des vorgeführten Gedankenganges anzuerkennen – die ja in der Tat nur so lange akzeptabel erscheinen, wie wir uns die einschlägigen Argumente dafür vor Augen halten. Man mag dann zugestehen: Wenn bestimmte Begleitumstände andere gewesen wären, dann hätte eine böse Absicht keine verhängnisvollen Auswirkungen zur Folge gehabt, und es wäre keine gravierend schuldhafte Tat begangen worden; aber da die Umstände nun eben einmal nicht anders waren, und es der Handelnde tatsächlich fertigbrachte, einen besonders grausamen Mord zu verüben, ist es das, was er begangen hat, und ist es das, wofür er verantwortlich ist. Ebenso könnte man zugestehen, daß sich der Handelnde nie zu dem Menschen entwickelt hätte, der fähig ist, solche Dinge zu begehen, wenn er sich früher in einer ganz anderen Lebenslage befunden hätte; aber da er eben, wenn auch als unvermeidliches Resultat jener früheren Umstände, zu dem Schwein wurde, das er ist, zu dem Menschen, der einen solchen Mord begangen hat, ist es dies, was ihm vorzuwerfen ist. In beiden Fällen kann man etwas für das, was man faktisch tut – auch wenn, was man faktisch tut, entscheidend von Ereignissen abhängt, über die man keinerlei Kontrolle hat. In einer solchen sogenannten ›kompatibilistischen‹ Auffassung moralischen Wertens gäbe es Platz für die alltäglichen Bedingungen für Verantwortlichkeit (es darf kein Zwang ausgeübt werden; der Akteur darf nicht unwissend sein; die Tat darf nicht Ergebnis unwillkürlicher Bewegungen sein usw.) – die nun teilweise mitfixieren würden, was jemand begangen hat –, doch zugleich würde der Einfluß eines Großteils all dessen, was der Handelnde nicht geschaffen hat, von vornherein eingeräumt.10
Die einzige Crux an dieser Lösung ist, daß sie nicht erklären kann, wie die skeptischen Probleme aufkommen. Sie ergeben sich nämlich nicht, weil willkürliche externe Anforderungen an uns herangetragen werden, sondern sind in der Natur unseres moralischen Wertens selbst angelegt. Irgendeine Komponente unserer gewöhnlichen Vorstellung dessen, was einer tut, muß erklären, weshalb es uns notwendig erscheinen kann, von all dem, was lediglich geschieht, abzusehen – obgleich nach einer derartigen Subtraktion in letzter Konsequenz gar nichts mehr übrig bleiben kann. Und irgendeine Komponente unserer gewöhnlichen Vorstellung von Wissen muß erklären, weshalb unsere Erkenntnisansprüche immer dann erschüttert werden, wenn wir die Tatsache in Betracht ziehen, daß die Meinungen eines Subjekts durch Faktoren beeinflußt werden, die sich seiner Kontrolle entziehen – so daß Wissen unmöglich zu sein scheint, wenn es nicht ein nachgerade unmögliches Fundament in einer autonomen Vernunft erhält. Aber lassen wir die Erkenntnistheorie beiseite und konzentrieren wir uns auf die Thematik des Handelns, Charakters und der moralischen Wertung.
Meines Erachtens entsteht das Problem deshalb, weil das handelnde Selbst – und damit der Adressat moralischen Wertens – sich aufzulösen droht, sobald seine Taten und Motive in der Klasse der Ereignisse aufgehen. Wertet man eine Person moralisch, so wertet man nicht etwas, das ihr einfach geschieht. Man wertet vielmehr sie. Eine moralische Wertung drückt nicht nur aus, daß ein Ereignis oder ein Zustand vorteilhaft, unvorteilhaft oder gar fürchterlich ist. Es handelt sich bei ihr nicht um die Bewertung eines Weltzustands – auch nicht eines Individuums, insofern es ein Stück der Welt ist – und man glaubt nicht nur, daß es besser wäre, wenn der Mensch anders wäre als er ist, oder daß es besser wäre, wenn er überhaupt nicht existierte oder einige der Handlungen nicht ausgeführt hätte, die er tatsächlich beging. Wir werten den Menschen selbst, nicht sein Dasein oder seine Qualitäten allein. Konzentriert man sich dann aber auf den Einfluß all jener Faktoren, die nicht persönlicher Kontrolle unterliegen, hat dies den Effekt, daß ebendieses verantwortliche Selbst gerade zu verschwinden scheint und in der Welt bloßer Ereignisse aufgeht.
Irgend etwas schwebt uns doch aber vor, das eine Person sein muß, damit sie der Adressat moralischer Einstellungen sein kann. Was ist es? Es ist äußerst schwierig, davon eine positive Beschreibung abzugeben, wenngleich der Begriff des Handelns so leicht zu untergraben ist. Das wissen wir aus der Literatur über den freien Willen nur zu gut.
Es will mir scheinen, daß dieses Problem in einem gewissen Sinne keiner Lösung zugeführt werden kann, denn irgendeine Komponente unserer Auffassung vom Handeln läßt sich einfach nicht damit in Einklang bringen, daß Taten Ereignisse und Menschen Dinge sind. Aber in dem Maße, in dem die externen Determinanten unseres Wirkens freigelegt werden und ihr Einfluß auf Folgen, auf den Charakter und auf die Entscheidung selbst hervortritt, wird deutlich, daß Handlungen sehr wohl Ereignisse und Menschen Dinge sind. Letzten Endes bleibt gar nichts übrig, was dem verantwortlichen Selbst zugeschrieben werden könnte, und wir haben es nur noch mit einem Ausschnitt jener globaleren Abfolge von Ereignissen zu tun, die zwar bedauert oder begrüßt, nicht aber getadelt oder gelobt werden kann.
Obwohl ich den durch meinen Gedankengang erschütterten Begriff des aktiven Selbst nicht zu definieren vermag, ist es immerhin möglich, etwas über seine Herkunft zu sagen. Zwischen unseren Gefühlen uns selbst gegenüber und unseren Gefühlen gegenüber anderen ist ein enger Zusammenhang gegeben. Schuld und Empörung, Scham und Verachtung, Stolz und Bewunderung sind jeweils die Innen- und die Außenseiten derselben moralischen Einstellungen. Wir sind schlicht außerstande, uns einfach nur als ein Stück der Welt zu betrachten. Es ist nämlich unsere eigene Innen-perspektive, aus der wir eine ungefähre Vorstellung davon haben, wo die Grenze verläuft zwischen dem, was zu uns gehört und dem, was nicht zu uns gehört; zwischen dem, was wir begehen, und dem, was uns bloß widerfährt; zwischen unserer Persönlichkeit und all dem, was nur ein kontingentes Handikap ist. Und ebendiese ihrer Natur nach interne Auffassung des eigenen Selbst wenden wir dann auch auf andere an. Was uns selbst anbelangt, haben wir Gefühle: wir fühlen uns stolz, beschämt, schuldig, reuevoll – und empfinden häufig jenes typische Bedauern des Täters