Letzte Fragen. Thomas Nagel
in der Frage dessen, was wir unserem innersten Wesen nach sind, sowie hinsichtlich unserer Taten können wir nicht nur einen von außen wertenden Standpunkt einnehmen – selbst dann nicht, wenn uns bewußt geworden ist, daß wir nichts können für unsere Existenz, für unsere Natur, für die Entscheidungen, die wir zu treffen haben, sowie für die exogenen Umstände, auf welche die Auswirkungen unserer Handlungen zurückzuführen sind. Die Taten sind und bleiben unsere und wir bleiben wir selbst, mögen die Gründe, die uns aus jederlei Dasein heraus zu argumentieren scheinen, noch so überzeugend sein.
Es ist just diese interne Sichtweise, die wir im moralischen Urteil dann auch auf andere übertragen – nämlich, wenn wir sie bewerten, und nicht bloß ihre Erwünschtheit oder ihren Nutzen. Wir übertragen unsere Weigerung, uns selbst ausschließlich aus der Außenperspektive heraus zu werten, auf andere und gestehen damit anderen ein Selbst zu, das dem unseren ähnlich ist. Aber diese Sichtweise gerät in beiden Fällen mit der Tatsache in Kollision, daß Menschen und alles, was auf sie zutrifft, brutal in eine Welt einbezogen sind, aus der sie nicht herausgelöst werden können und von der sie nichts als Bestandteile sind. Die externe Sichtweise zwingt sich uns im selben Augenblick auf, in dem wir sie verdrängen. Dies zeigt sich eben auch daran, daß sich unser Tun nach und nach auflöst, wenn wir abziehen, was lediglich geschieht.11
Indem wir Auswirkungen in unser Bild dessen, was wir getan haben, miteinbeziehen, geben wir zu, daß wir ein Stück der Welt sind. Aber die Paradoxien der moralischen Kontingenz, die sich aus diesem Eingeständnis ergeben, zeigen, daß wir letztlich unfähig sind, mit einer solchen Sicht der Dinge zu leben, denn ihr zufolge müßten wir uns ja damit abfinden, daß es niemanden mehr gäbe, der wir selbst sein könnten. Dasselbe kommt auch in jenem Schein zum Ausdruck, der Determinismus mache unsere Verantwortlichkeit unmöglich. Sobald wir einen Aspekt des Tuns, das wir selbst oder andere vollziehen, als bloßes Geschehen auffassen, entgleitet uns die Überzeugung, daß überhaupt noch etwas begangen wurde, und wir den Täter zu werten haben und nicht bloß das Geschehnis. Dies erklärt übrigens, weshalb der Begriff unseres Handelns vom Indeterminismus nicht minder wirkungsvoll untergraben wird als vom Determinismus – eine wichtige Einsicht, die in der Philosophie schon des öfteren einmal bemerkt wurde. In beiden Fällen wird die Tat nämlich aus der Außenperspektive, als Bestandteil des Gangs der Ereignisse betrachtet.
Man versteht die Problematik der moralischen Kontingenz nicht wirklich, solange man nicht über eine Erklärung der Innenansicht des Handelns und des ihr eigentümlichen Zusammenhangs mit spezifisch moralischen Einstellungen (im Gegensatz zu anderen Arten der Wertung) verfügt. Eine solche Erklärung hatte ich hier nicht anzubieten. Die Frage, ob und in welchem Grade das Problem überhaupt einer Lösung zuführbar ist, ließe sich nur entscheiden, wenn abzusehen wäre, ob und in welchem Maße sich die Inkompatibilität der internen Sichtweise und der unterschiedlichen Hinsichten, in denen sich unsere Handlungen der Kontrolle entziehen, als eine bloß scheinbare Inkompatibilität erweist. Auch zu dieser Fragestellung hatte ich hier nichts anzubieten. Jedenfalls bleibt es ungenügend, lediglich festzustellen, daß unsere fundamentalen moralischen Einstellungen uns selbst und anderen gegenüber lediglich von alldem abhängen, was wirklich der Fall ist, denn moralisches Werten wird von den Quellen jener Faktizität ebensogut bedroht wie von der Außenansicht des Handelns, die sich uns aufdrängt, sobald wir einsehen, daß all unser Wirken zu einer Welt gehört, die wir nicht geschaffen haben.
Für diesen Band neu übersetzt von Knut Eming.
Sexuelle Perversion
Über Sexualität läßt sich etwas aus der Tatsache lernen, daß wir über den Begriff der sexuellen Perversion verfügen. Ich möchte den Begriff der Perversion genauer analysieren, gegen den Vorwurf der Unverständlichkeit verteidigen und einen Versuch wagen, näher anzugeben, welche Eigenschaften humaner Sexualität dafür verantwortlich sind, daß sie pervertiert werden kann. Zunächst werde ich einige allgemeine Bedingungen anführen, die der Begriff zu erfüllen hat, wenn er denn haltbar sein soll. Man kann sie einräumen, ohne dabei von einer bestimmten Analyse auszugehen.
Erstens: Jede sexuelle Perversion muß in sexuellem Verlangen oder in sexuellen Praktiken bestehen, die in einem gewissen Sinne unnatürlich sind, wobei das Hauptproblem gewiß in der Aufklärung dieser Unterscheidung von ›natürlich‹ und ›unnatürlich‹ liegt. Zweitens: Ist überhaupt irgend etwas eine Perversion, so gehören bestimmte Praktiken mit Sicherheit dazu – Schuhfetischismus etwa, Sodomie oder Sadismus. Andere Praktiken, zum Beispiel herkömmlicher menschlicher Geschlechtsverkehr, sind keine Perversionen; und über wieder andere gehen die Meinungen auseinander. Drittens: Gibt es Perversionen, so bestehen sie in unnatürlichen sexuellen Neigungen. Unnatürliche Praktiken, die nicht aus Neigung, sondern aus anderen Gründen ausgeübt werden, gehören nicht dazu. So ist es schwerlich sinnvoll, Empfängnisverhütung als sexuelle Perversion aufzufassen, und zwar auch dann, wenn sie für eine bewußte Perversion der sexuellen und der Fortpflanzungsfunktionen gehalten wird. Eine sexuelle Perversion muß sich in einem Verhalten zeigen, das eine unnatürliche sexuelle Vorliebe ausdrückt. Zwar mag es durchaus eine Form des Fetischismus geben, der auf die Anwendung kontrazeptiver Maßnahmen gerichtet ist, aber das kann kaum die übliche Erklärung für den Gebrauch von Verhütungsmitteln sein.
Der Zusammenhang zwischen Sexualität und Fortpflanzung hat mit sexueller Perversion nichts zu tun. Der letztere Begriff ist aus psychologischen, nicht aus physiologischen Gründen von Interesse; es handelt sich um einen Begriff, den wir nicht auf niedere Tiere und schon gar nicht auf Pflanzen anwenden, obwohl sie allesamt reproduktive Funktionen haben, die auf vielerlei Weise verloren gehen können. (Man denke nur einmal an kernlose Orangen.) Und wenn wir bereit sind, auch höhere Tiere als pervers zu bezeichnen, dann liegt dies nur an ihrer psychologischen und nicht an ihrer anatomischen Ähnlichkeit mit dem Menschen. Schließlich fassen wir auch bei Menschen nicht jederlei Abweichung von der Fortpflanzungsfunktion der Sexualität als Perversion auf: Sterilität, Fehlgeburten, Empfängnisverhütung und Abtreibung sind Beispiele dafür.
Der Begriff sexueller Perversion kann auch nicht unter Bezugnahme auf soziale Mißbilligung oder auf gesellschaftliche Konventionen definiert werden. Betrachten wir all die Gesellschaften, die Ehebruch und Prostitution ablehnten. Diese Praktiken wurden nicht als unnatürlich aufgefaßt, sondern sie wurden aus anderen Gründen für verwerflich gehalten. Es ist keine Frage, daß in der einen Kultur etwas als unnatürlich gilt, das für eine andere natürlich ist, doch gleichwohl drückt man mehr als nur Mißbilligung oder Abscheu aus, wenn man etwas als unnatürlich bezeichnet. Tatsächlich wird Unnatürlichkeit oft als Grund für Mißbilligung angeführt; und ebendieser Tatbestand legt den Gedanken nahe, daß die Klassifikation von ›natürlich‹ und ›unnatürlich‹ einen unabhängigen Gehalt hat.
Ich werde eine psychologische Erklärung sexueller Perversion anbieten, die an eine Theorie des sexuellen Verlangens und der sexuellen Beziehungen des Menschen gebunden ist. Um an diese Lösung heranzuführen, möchte ich zunächst eine gegensätzliche Ansicht behandeln, die es rechtfertigen würde, die Existenz sexueller Perversionen überhaupt und vielleicht sogar die Bedeutsamkeit dieses Terminus zu bezweifeln. Das skeptische Argument verläuft folgendermaßen:
»Sexuelles Verlangen ist einfach ein Trieb unter anderen, wie Hunger oder Durst. Als Trieb kann es auf verschiedene Objekte gerichtet sein, von denen manche vielleicht üblicher als andere sind, aber keines dieser Objekte ist in irgendeinem Sinne ›natürlich‹. Ein Trieb wird als ein sexueller identifiziert, indem man auf die Organe und erogenen Zonen, in denen seine Befriedigung bis zu einem gewissen Grade lokalisiert werden kann, und auf die konkreten sinnlichen Genüsse verweist, die das Wesen dieser Befriedigung ausmachen. Damit sind wir in der Lage, äußerst verschiedene Ziele, Aktivitäten und Wünsche als sexuell zu betrachten, denn es ist im Prinzip denkbar, daß alles sexuelle Lust erregen oder daß ein unbewußter, sexuell geprägter Wunsch danach geweckt werden kann (und sei es nur durch Konditionierung). Zwar mögen wir einige dieser Wünsche nicht teilen, und etliche (wie zum Beispiel Sadismus) mögen aus Gründen, die mit ganz anderen Erwägungen zu tun haben, auch verwerflich sein; aber sobald wir erkannt haben, daß sie den Kriterien für sexuelle Wünsche genügen, gibt es zu dieser