Letzte Fragen. Thomas Nagel

Letzte Fragen - Thomas Nagel


Скачать книгу
zu – sie gehört einfach nicht zu Gefühlen solcher Art.«

      Das ist vermutlich der authentische radikale Standpunkt. Wer ihn vertritt, meint, daß eine psychologische Erklärung sexueller Perversion nur aufrechtzuerhalten ist, wenn man in Abrede stellt, daß sexuelles Verlangen ein Trieb ist. Aber diese Strategie der Rechtfertigung – sofern sie überhaupt einleuchtend ist – sollte unser Mißtrauen gegen das naive Bild der Triebe wecken, das dieser Skeptizismus unterstellt. Vielleicht können nicht einmal unsere paradigmatischen Triebe wie der Hunger als reine Triebe in jenem Sinne aufgefaßt werden, zumindest nicht in ihrer Ausprägung beim Menschen.

      Können wir uns irgend etwas vorstellen, das man als Perversion des Hungers bezeichnen könnte? Hunger und Nahrungsaufnahme haben – ganz wie die Sexualität – eine biologische Funktion und spielen darüber hinaus eine wichtige Rolle für unser Innenleben. Man beachte, daß es kaum eine Veranlassung gibt, das triebhafte Verlangen nach Dingen, die nicht nahrhaft sind, als pervers zu bezeichnen: Wir würden die Triebe eines Menschen nicht als pervertiert einstufen, wenn er gern Papier, Holz oder Baumwolle äße: Wir hätten es lediglich mit ziemlich merkwürdigen und sehr ungesunden Vorlieben zu tun. Sie besitzen indes nicht die psychologische Komplexität, die wir von Perversionen erwarten (wenn wir von Koprophilie einmal absehen, die ja eigentlich eine sexuelle Perversion ist). Wenn nun aber jemand gern Kochbücher und Zeitschriften äße, in denen Lebensmittel abgebildet sind, und diese der gewöhnlichen Nahrung vorzöge – oder wenn er die Befriedigung seines Hungergefühls durch Streicheln einer Serviette oder eines Aschenbechers aus seinem Lieblingsrestaurant suchte – dann schiene es schon eher angemessen zu sein, den Begriff der Perversion anzuwenden (in diesem Fall würden wir wohl von gastronomischem Fetischismus sprechen). Es wäre auch angemessen, jemandem einen pervertierten Hungertrieb zuzuschreiben, der nur essen kann, wenn ihm die Nahrung mittels eines Trichters durch die Speiseröhre gepreßt wird oder wenn seine Mahlzeit aus lebendigen Tieren besteht. Entscheidend ist die Eigentümlichkeit des Verlangens an sich, und nicht die Tatsache, daß der Gegenstand, auf den es gerichtet ist, der biologischen Funktion dieses Verlangens nicht angemessen ist. Auch ein Trieb kann pervertiert werden, wenn er außer seiner biologischen Funktion eine signifikante psychologische Struktur hat.

      Zum Beispiel offenbart sich die psychologische Komplexität des Hungers am Verhalten, in dem er sich äußert. Hunger ist nicht nur eine störende Empfindung, die sich durch Nahrungsaufnahme beseitigen läßt, sondern es handelt sich um eine Einstellung gegenüber eßbaren Bestandteilen der Außenwelt, um den Wunsch, sie in einer ganz konkreten Weise zu behandeln. Die verschiedenen Formen der Nahrungsaufnahme – vom Kauen, Schmecken, Schlucken, bis hin zur Wahrnehmung der Konsistenz und des Geruchs – sind ebenso wichtige Komponenten dieser Beziehung wie die Passivität und Kontrollierbarkeit der Nahrung (die einzigen lebenden Tiere, die wir essen, sind ja hilflose Mollusken). Unsere Beziehung zur Nahrung hängt darüber hinaus von gewissen Größenverhältnissen ab: Wir leben nicht auf ihr wie Blattläuse und wir wühlen uns nicht in sie hinein wie Würmer. Einige dieser Charakteristika spielen eine wichtigere Rolle als andere, aber eine adäquate Phänomenologie des Essens hätte die Nahrungsaufnahme als eine Beziehung zur Außenwelt und als von typischen Erregungszuständen begleitete Aneignung von Bestandteilen der Welt darzustellen. Veränderungen oder ernsthafte Einschränkungen des Verlangens nach Essen ließen sich dann als Perversion behandeln, sobald sie jene unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Nahrung beeinträchtigen, in der sich der Hunger natürlicherweise äußert. Das erklärt, weshalb es nicht schwer fällt, sich auch in bezug auf Hunger Fetischismus, Voyeurismus, Exhibitionismus, ja sogar Sadismus und Masochismus vorzustellen. Einige dieser Perversionen sind übrigens relativ weit verbreitet.

      Können wir uns aber Perversionen eines Triebs wie Hunger vorstellen, so müßte es eigentlich möglich sein, auch dem Begriff der sexuellen Perversion einen guten Sinn zu geben. Ich möchte damit keineswegs behaupten, daß sexuelles Verlangen ein Trieb ist, sondern weise lediglich darauf hin, daß etwas auch dann pervertiert werden kann, wenn es ein Trieb ist. Wie beim Hunger ist das charakteristische Objekt sexuellen Verlangens eine bestimmte Beziehung zu einem Teil der Außenwelt. Nur besteht die Beziehung in diesem Falle eben zu einer Person und nicht zu einem Omelett; und außerdem ist die Relation wesentlich komplizierter. Und diese zusätzliche Komplexität bietet Spielraum für entsprechend komplexe Formen der Perversion.

      Der Tatbestand, wonach sexuelles Verlangen ein Gefühl anderen Personen gegenüber ist, könnte eine fromme Auffassung des psychischen Gehalts dieses Verlangens nahelegen: Eigentlich drücke sexuelles Verlangen ja nur eine andere Einstellung, etwa Liebe aus; trete es hingegen isoliert auf, sei es unvollkommen und menschenunwürdig. (Die extreme platonische Version einer solchen Ansicht lehrt, daß alle sexuellen Praktiken vergebliche Versuche sind, etwas auszudrücken, das sie prinzipiell nicht erfassen können, und dies sie alle in gewissem Sinn zu Perversionen macht.) Aber sexuelles Verlangen ist für sich betrachtet schon kompliziert genug, als daß es erst an etwas anderes gebunden werden müßte, um phänomenologisch analysiert werden zu können. Sexualität kann unterschiedliche Funktionen erfüllen – ökonomische, soziale, altruistische – hat aber als zwischenmenschliche Beziehung obendrein auch ihren eigenen Gehalt.

      Der Gegenstand sexueller Anziehung ist ein bestimmtes Individuum, das die Qualitäten, die ihm seine Attraktivität verleihen, allerdings transzendiert. Werden mehrere Menschen von ein und derselben Person aus unterschiedlichen Gründen angezogen – wegen ihrer Haare, ihrer Augen, ihrer Gestalt, ihres Lachens oder ihrer Intelligenz – haben wir nichtsdestoweniger das Gefühl, daß der Gegenstand ihres Verlangens derselbe ist. Wir haben dieses Gefühl unter Umständen sogar dann noch, wenn die Liebenden, etwa weil es sich sowohl um Männer als auch um Frauen handelt, unterschiedliche sexuelle Ziele verfolgen. Die verschiedensten Eigenschaften, die jeweils auf spezifische Weise anziehend wirken mögen, scheinen ein elementares Gefühl auslösen zu können, das sich wiederum in den unterschiedlichsten Zielen und Wünschen äußern kann. Eine sexuelle Einstellung gegenüber einem Menschen bildet sich zwar aufgrund gewisser anziehend wirkender Eigenschaften aus, aber diese Qualitäten sind nicht das Objekt dieser Einstellung.

      Ganz anders verhält es sich, sobald jemand den Wunsch nach einem Omelett hat. Verschiedene Leute können aus uneinheitlichen Gründen ein Verlangen nach einem Omelett verspüren – der eine, weil es so locker gebacken ist, der andere wegen der Pilze und wieder ein anderer wegen der einzigartigen Verbindung von Aroma und visuellem Eindruck, und dennoch erheben wir den gemeinsamen Gegenstand ihrer Erregungszustände nicht in den Rang eines transzendenten Omeletts. Statt dessen können wir sagen, daß mehrere Wünsche rein zufällig auf dasselbe Objekt gerichtet sind: Jedes andere Omelett mit den entsprechenden Qualitäten würde es auch tun. Dagegen kann nicht jede Person mit derselben Gestalt oder derselben Art zu rauchen zum Objekt eines spezifischen sexuellen Verlangens werden, auch wenn das Verlangen durch ebendiese Eigenschaften geweckt worden ist. Es mag sein, daß bestimmte Eigenschaften mehrmals auftauchen, aber dann handelt es sich um eine andere sexuelle Anziehung mit einem jeweils anderen konkreten Objekt; das ursprüngliche Verlangen überträgt sich nicht einfach auf einen anderen Menschen. (Das gilt sogar in den Fällen, in denen der neue Gegenstand unbewußt mit dem früheren identifiziert wird.)

      Wie wichtig dieses Moment ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie kompliziert die psychologische Wechselwirkung gerät, die dem Phänomen sexueller Anziehung zugrunde liegt. Dies wäre unbegreiflich, sobald der Gegenstand der sexuellen Anziehung nicht in einer konkreten Person bestünde, sondern nur in irgendeiner Person einer bestimmten Art. Und mit der Anziehung fängt es ja erst an, die Erfüllung umfaßt dann noch viel mehr als bloß das Verhalten und die Berührung, worin die Anziehung zum Ausdruck kommt.

      Die beste mir bekannte Erörterung dieser Fragen findet sich bei Sartre im dritten Teil seines Werks Das Sein und das Nichts.1 Seine Überlegungen zu sexuellem Verlangen, zu Liebe, Haß, Sadismus und Masochismus wie auch zu weiteren Einstellungen gegenüber anderen Menschen sind an eine allgemeine Theorie des Bewußtseins und des Körpers gebunden, die ich hier weder darstellen noch voraussetzen kann. Sartre setzt sich nicht mit Perversionen auseinander, was zum Teil damit zusammenhängt, daß er das sexuelle Verlangen als Ausprägung unseres fortgesetzten Versuchs eines verkörperten Bewußtseins ansieht, mit der Existenz anderer zu Rande zu kommen – ein Versuch, der jedoch zum Scheitern verurteilt ist,


Скачать книгу