Letzte Fragen. Thomas Nagel
und Krieg
Apathische Reaktionen einer breiten Öffentlichkeit auf die von den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten in Vietnam verübten Greuel lassen den Schluß zu, daß moralische Rücksichten bei der Kriegführung in der amerikanischen Bevölkerung ebensowenig Sympathie genießen wie unter den Verantwortlichen der US-Militärpolitik.1 Macht sich überhaupt einmal jemand für Restriktionen in der Kriegführung stark, dann gewöhnlich allein unter Berufung auf geltendes Recht. Die moralischen Fundamente solcher Beschränkungen verstehen indessen nur die wenigsten so richtig. Es wird mir im vorliegenden Kapitel um den Nachweis gehen, daß derlei Restriktionen weder rein konventioneller Natur sind noch willkürlich, und daß ihre Gültigkeit nicht einfach bloß auf ihrem Nutzen beruht. Es gibt mit anderen Worten selbst dann ein moralisches Fundament, auf dem all das gründet, was in einem Krieg verboten ist, wenn die bislang anerkannten völkerrechtlichen Konventionen noch weit davon entfernt sind ihm hinreichend Ausdruck zu verleihen.
I
Man benötigt keine ausgefeilte Moraltheorie, um zu erklären, was zutiefst unrecht ist an Bestialitäten wie dem Massaker von My Lai, denn weder dienten sie noch sollten sie überhaupt strategischen militärischen Zwecken dienen. Und ferner: Wenn die Beteiligung der Vereinigten Staaten am Indochinakrieg von vornherein immer schon unrecht war, dann kann dieses Engagement ohnehin nicht als Rechtfertigung für auch nur die mindeste ihm dienliche Maßnahme herhalten – geschweige denn für ›Maßnahmen‹, die sogar im gerechtesten aller Kriege nichts anderes wären als widerwärtige Greueltaten.
Doch im Vietnamkrieg gaben sich Einstellungen allgemeinerer Art zu erkennen, die bereits in der Vergangenheit die Führung von Kriegen beeinflußt haben. Und so stehen wir denn, sollte dieser Krieg eines Tages endlich hinter uns liegen, auch in der Zukunft vor dem Problem, wie denn ein Krieg grundsätzlich überhaupt geführt werden darf; und die Gesinnung, der die besondere Weise geschuldet ist, wie in Indochina Krieg geführt wurde, wird sich dann gewiß nicht in Luft aufgelöst haben. Mehr noch, weitgehend die gleichen ethischen Probleme können sich ebensogut bei Aufständen oder bei Kämpfen stellen, die aus ganz anderen Gründen und gegen ganz andere Gegner geführt werden, und es ist fürwahr nicht leicht, in seiner ethischen Überlegung an einem klaren Bild davon festzuhalten, was bei der Führung eines Krieges noch zulässig ist und was nicht. Schließlich gibt es neben all den Militäraktionen, bei denen es sich um offenkundige Verbrechen handelt, noch eine Reihe anderer Fälle, die weitaus weniger leicht einzuschätzen sind. Die allgemeinen Prinzipien, die unserem ethischen Werten zugrunde liegen, bleiben hier in ein Dunkel gehüllt, und ihre Obskurität mag uns dann dazu verleiten, Intuitionen eines durchaus gesunden Menschenverstandes zugunsten von Kriterien aufzugeben, deren Grundprinzip etwas offener zutage tritt. Will man dieser Versuchung widerstehen, bedarf man eines besseren Verständnisses der einschlägigen Restriktionen als wir es gegenwärtig besitzen.
Ich beabsichtige hier, das allgemeinste moralische Problem zu diskutieren, das sich stellt, sobald ein Krieg geführt wird: das Problem von Mittel und Zweck. Nach einer der vertretenen Auffassungen sind den Dingen, die im Krieg begangen werden dürfen, Grenzen gesetzt, und zwar gleichgültig wie erstrebenswert der erreichbare Zweck auch immer sein mag – ja, sogar gleichgültig wie teuer das Befolgen dieser Einschränkungen erkauft wird. Ein Mensch, der sich von der Evidenz solcher Restriktionen motivieren läßt, kann sich gegebenenfalls schon sehr bald in einem akuten moralischen Dilemma befinden. Er mag beispielsweise sicher sein, daß das Foltern eines Gefangenen ihm die nötigen Informationen verschaffen würde, um eine verheerende Katastrophe abzuwenden, oder daß das Flächenbombardement einer Siedlung einen terroristischen Feldzug zum Stillstand bringen wird. Ist er obendrein fest davon überzeugt, daß der Nutzen einer Maßnahme ihre Nachteile klar und deutlich überwiegt, und glaubt er dennoch, daß er die Maßnahme nicht ergreifen darf, gerät er in ein Dilemma – verursacht durch den Konflikt zweier disparater Kategorien ethischer Gründe: Wir können sie im folgenden als die beiden Kategorien der utilitaristischen und der absolutistischen moralischen Gründe bezeichnen.
Der Utilitarismus legt den Primat auf die Frage, was geschehen wird – während für den Absolutismus hingegen stets der Sorge Vorrang gebührt, was im Hier und Jetzt von uns begangen wird. Zum Konflikt zwischen den beiden Standpunkten kommt es, da die Alternativen, unter denen wir in der Regel zu wählen haben, uns nur in den seltensten Fällen lediglich eine Entscheidung abverlangen, welches von mehreren Endergebnissen erreicht werden soll: Sie fordern meist auch die Entscheidung, welcher von mehreren alternativen Wegen einzuschlagen oder welche der zu Gebote stehenden alternativen Maßnahmen zu ergreifen ist. Besteht dann eine der Wahlmöglichkeiten darin, einem anderen Menschen unsägliches Leid zuzufügen, ändert sich unser Problem ganz grundlegend. Es handelt sich von nun an nicht mehr ausschließlich darum, welches Gesamtresultat letzten Endes das schlechtere wäre.
Kaum einer von uns dürfte restlos immun sein gegen diese beiden Arten moralischer Intuition, obwohl es Menschen geben wird, bei denen die einen Intuitionen – infolge eigener Veranlagung oder aus ideologischen Gründen – dominant und die anderen eher unterdrückt oder verkümmert sind. Es kann aber auch sein, daß man beide Typen von Gründen gleich stark in sich verspürt, und dann ist in bestimmten Krisensituationen das Dilemma regelrecht vorprogrammiert. Jede nur mögliche Handlungsalternative – und sei es das pure Nichtstun – scheint in derlei Fällen aus entweder dem einen oder aber dem anderen Grunde moralisch inakzeptabel.
II
Wenn es auch letzten Endes dieses Dilemma ist, das näher zu untersuchen wäre, werde ich mich hier überwiegend seiner absolutistischen Komponente zuwenden; die utilitaristische Komponente ist im Vergleich mit ihr weniger kompliziert. Jedem, der nicht immer schon ein grundsätzlicher Skeptiker in Fragen der Ethik ist, leuchtet sie unmittelbar ein. Der Utilitarismus lehrt, man müsse stets bemüht sein, sowohl auf dem Wege geeigneter Institutionen als auch als Individuum Gutes zu maximieren und Schlechtes zu minimieren (für eine schematische Formulierung seines Standpunkts mag die genaue Definition dieser Kategorien einstweilen unterbleiben), und es sei, sobald man die Möglichkeit habe, ein erheblicheres Übel durch ein unerheblicheres zu verhindern, im entsprechenden Fall das kleinere Übel zu wählen. Es treten fraglos mancherlei Schwierigkeiten bei der Ausarbeitung einer utilitaristischen Position auf, und dazu ist ja auch allerhand geschrieben worden – doch ist jedenfalls moraltheoretisch einsichtig, worauf der Utilitarismus hinaus will. Gleichwohl läßt er bis zum heutigen Tag, unbeschadet aller Zusätze und Verfeinerungen, die er erfahren hat, noch weite Gebiete der Ethik völlig unerklärt. Ich möchte damit nicht behaupten, daß irgendeine Form des Absolutismus sie alle erklären könnte, sondern lediglich, daß eine gründlichere Untersuchung der absolutistischen Gegenposition uns die Komplexität und vielleicht sogar Inkohärenz unserer eigenen moralischen Vorstellungen vor Augen führen wird.
Natürlich ist der Utilitarismus durchaus in der Lage, einige der Handlungsauflagen zu rechtfertigen, die für die Führung eines Krieges gelten. So sind beispielsweise zwingende utilitaristische Gründe gegeben, sich jenen Restriktionen zu unterwerfen, die von den meisten Menschen als seine natürlichen Grenzen angesehen werden – vor allem dann, wenn diese Beschränkungen bereits weithin als Restriktionen anerkannt sind. Eine außergewöhnliche Maßnahme, die in einem bestimmten Konflikt durch ihren Erfolg gerechtfertigt erscheinen mag, kann womöglich als Präzedenzfall auf lange Sicht absolut verheerende Auswirkungen haben.2 Ein Utilitarist mag sogar den Standpunkt vertreten, daß schlechterdings jeder Krieg immer Gewalt in einem solchen Ausmaß mit sich bringe, daß es vollkommen unmöglich sei, ihn im Rückgriff auf utilitaristische Gründe rechtfertigen zu wollen: Die Weigerung, sich an kriegerischen Auseinandersetzungen zu beteiligen, könne niemals so schlimme Folgen haben wie ein Krieg, sogar wenn es in ihm nicht zu Greueltaten käme. Ja, er kann sich selbst noch die raffiniertere Position zu eigen machen, daß eine geradlinige politische Prinzipienentscheidung, grundsätzlich nie zu dem Mittel militärischer Auseinandersetzung zu greifen, auf längere Sicht weniger Schaden anrichten würde – wenn man nur konsequent an ihr festhielte – als eine Politik, die bloß von Fall zu Fall utilitaristische Erwägungen zum Tragen kommen ließe (wenngleich zugestanden wird, daß im konkreten Einzelfall dann dieses prinzipielle Festhalten an