Letzte Fragen. Thomas Nagel

Letzte Fragen - Thomas Nagel


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mehr. Der Absolutismus verlangt von uns, Mord unsererseits um jeden Preis zu meiden, nicht etwa, ihn um jeden Preis zu verhindern.

      Man könnte auch einen weniger strengen deontologischen Standpunkt als den Absolutismus einnehmen, ohne deshalb gleich dem Utilitarismus zu verfallen. Es gibt für uns zwei Möglichkeiten, die moralische Relevanz der Unterscheidung von vorsätzlichem und nicht vorsätzlichem Töten anzuerkennen, ohne Absolutist zu sein. Zum einen könnten wir Mord als einen besonders schlimmen Posten in unseren Katalog des Schlechten aufnehmen, als ungleich gravierender als zufälliges oder ungewolltes Töten. Die andere Möglichkeit bestünde darin, vorsätzliches Töten eines Unschuldigen für unzulässig zu erklären, es sei denn, dies wäre der einzige Weg, ein ganz besonders erhebliches Übel (z. B. den Tod von gleich fünfzig unschuldigen Menschen) zu verhindern. Man könnte dies dann die ›Schwelle‹ nennen, von der ab das Mordverbot nicht mehr zum Tragen käme. Dieser Standpunkt ist offenkundig nicht mehr absolutistisch, doch ebensowenig mißt er Mord so einfach utilitaristisch eine negative Valenz in Höhe der negativen Valenz der Schwelle zu. Das ist leicht einzusehen: Hätte ein Mord die negative Valenz von fünfzig akzidentellen Toden, wäre es aus rein utilitaristischen Gründen zulässig, einen Mord zu begehen, um dadurch einen anderen Mord plus irgend ein minder schweres weiteres Übel zu verhindern, etwa einen gebrochenen Arm. Schlimmer noch, aus rein utilitaristischen Gründen sähen wir uns dann gezwungen, einen Mord selbst dann zu verhindern, wenn unser Eingreifen gar den akzidentellen Tod von neunundvierzig Menschen nach sich zöge, die andernfalls nicht zu Tode gekommen wären. Ein deontologisches ›Mordverbot mit Schwelle‹ hingegen würde nicht zu derlei Konsequenzen führen, denn es besagt gerade nicht einfach bloß, daß das Geschehen bestimmter Handlungen überaus schlecht sei und mithin um jeden Preis verhindert werden müsse, sondern fordert vielmehr alle potentiellen Akteure zum Unterlassen derartigen Tuns auf, es sei denn unter ungemein extremen Umständen. In Wahrheit ließe sich mit einem deontologischen Mordverbot sogar die Auffassung vereinbaren, daß im Endeffekt die negative Valenz eines Mords nicht erheblicher sei als die eines akzidentellen Todesfalles. Obwohl die Einführung von Schwellen den hier untersuchten Konfliktfällen einen Teil ihrer Schärfe nehmen dürfte, glaube ich allerdings nicht, daß sie diese Konflikte völlig beseitigen oder fundamental verändern würde. Es gäbe sie auch weiterhin noch in Form von Kollisionen zwischen beliebigen deontologischen Aufforderungen und den knapp unterhalb der jeweiligen Schwelle liegenden utilitaristischen Valenzen.

      Schließlich möchte ich noch einige Bemerkungen zu einer weitverbreiteten Kritik am Absolutismus anführen, die auf einem Mißverständnis beruht. Es wird manchmal behauptet, derartige Verbote rührten von einer Art von ›moralischem Eigennutz‹ her, vom Vorrang der Pflicht, die eigene moralische Unschuld zu wahren, sich nur nicht die Hände schmutzig zu machen, was immer mit dem Rest der Welt auch geschehe. Wäre das die absolutistische Position, könnte man ihr den Vorwurf der Selbstsucht machen. Was gibt schließlich dem einzelnen Menschen das Recht, der Unschuld seiner Seele und der Reinheit seiner Hände Vorrang vor dem Leben und Wohlergehen zahlloser Mitmenschen zu geben? So mag man die Auffassung vertreten, einer der – wie Truman – im Dienste der Öffentlichkeit steht, habe schlicht kein Recht, auf diese Weise an sich selbst zuerst zu denken; wenn er also überzeugt davon sei, daß jede Alternative schlimmer wäre, müsse er den Abwurf der Bombe befehlen und die Last der Getöteten auf sich nehmen, genauso wie er auch andere unerfreuliche Dinge für das Allgemeinwohl zu tun habe.

      Die Deutung, daß moralischer Eigennutz die Grundlage des Absolutismus bilde, beruht aber gleich auf einem doppelten Mißverständnis. Erstens ist es eine Konfusion anzunehmen, daß das Bedürfnis, die eigene moralische Unschuld zu wahren, der Ursprung einer ethischen Schuldigkeit sein könne, denn man kann doch wohl nur dann seine moralische Integrität oder Unschuld mit einem Mord beflecken, wenn immer schon von vornherein feststeht, daß es unrecht ist zu morden! Was allgemein gegen Mord spricht, kann folglich nicht darin bestehen, daß ein Mord den Mörder zu einem unmoralischen Menschen macht. Zweitens gilt, daß die Beschreibung, man könne bisweilen darin gerechtfertigt sein, die eigene moralische Integrität im Dienste eines hinlänglich wertvollen Zwecks zu opfern, schlicht eine inkohärente Beschreibung ist. Denn erbrächte jemand ein bestimmtes Opfer wirklich gerechtfertigtermaßen (oder hätte er gar die moralische Pflicht, es zu erbringen), würde er seine moralische Integrität auf dem entsprechenden Wege schwerlich opfern: Er würde sie sich vielmehr erhalten.

      Der ethische Absolutismus steht mit seiner Aufforderung, jedermann möge unter allen Umständen die eigene moralische Integrität wahren, nicht allein da unter den Moraltheorien. Sie wird gleichermaßen vom Utilitarismus und von jeder anderen Theorie erhoben, die zwischen Recht und Unrecht unterscheidet. Jede Theorie, die für eine Vielzahl von Umständen festlegt, welche Handlungsalternative die rechte ist, und behauptet, daß man diese Handlungsweise übernehmen muß, behauptet ipso facto, daß man dasjenige tun soll, was einem die moralische Integrität erhält, einfach deshalb, weil es die rechte Handlungsalternative ist, die einem unter diesen Umständen dann auch die moralische Integrität erhält. Natürlich behauptet auch der Utilitarismus nicht, daß man aus dem Motiv moralischer Selbstsucht so handeln soll, aber wie wir gesehen haben, gilt für den Absolutismus dasselbe.

      V

      Es ist wesentlich einfacher sich falscher Erläuterungen des Absolutismus zu entledigen, als eine zutreffende zustande zu bringen. Am Anfang jeder positiven Erklärung muß die Beobachtung stehen, daß Krieg, Streit und Aggression stets Beziehungen zwischen Menschen sind. Die Ansicht, daß es unrecht sein könnte, bei eigenen Taten lediglich die übergreifenden Auswirkungen auf das Allgemeinwohl in Betracht kommen zu lassen, wird relevant, sobald unsere Handlungen Beziehungen zu anderen Menschen mit sich bringen. Eine Handlung betrifft normalerweise weitaus mehr Menschen als nur diejenigen, mit denen der Akteur unmittelbar zu tun hat, und natürlich müssen diese Auswirkungen bei jeder Dezision, was getan werden soll, mitberücksichtigt werden. Gibt es aber spezielle Prinzipien, welche die Art und Weise vorschreiben, wie er andere Menschen zu behandeln hat, muß er sein Augenmerk vor allem auf die einzelnen Personen richten, denen sein Handeln gilt, und nicht mehr vorrangig auf die Folgen im ganzen.

      Es scheint nun zwei Typen absolutistischer Einschränkungen jeder Kriegführung zu geben: Restriktionen in bezug auf die Klasse von Menschen, gegen die sich Aggression oder Gewaltanwendung allererst richten dürfen, und Restriktionen der Art und Weise, wie dann jemand, der zu dieser Klasse gehört, überhaupt attackiert werden darf. Beide lassen sich einstweilen unter dem einen Grundsatz zusammenfassen, daß jederlei Feindseligkeit gegenüber einem Menschen durch etwas an diesem Menschen gerechtfertigt sein muß, das die Feindseligkeit angemessen sein läßt. Feindschaft ist und bleibt eine zwischenmenschliche Beziehung, und sie muß auf diejenigen zugeschnitten sein, gegen die sie sich richtet. Als Konsequenz ergibt sich aus dieser Bedingung, daß bestimmte Menschen im Krieg unter keinen Umständen das Ziel von Feindseligkeiten werden dürfen, da nichts an ihnen eine derartige Behandlung rechtfertigt. Auf andere dürfen sich diese Feindseligkeiten nur unter gewissen Umständen richten oder wenn die betreffenden Leute bestimmten Tätigkeiten nachgehen. Und die Art und das Ausmaß angebrachter Feindseligkeit werden davon abhängen, was im konkreten Fall gerechtfertigt ist.

      Eine derartige Ansicht wird es, wenn sie kohärent ist, für kompatibel erachten, jemanden extrem feindselig und doch als Menschen zu behandeln – ja, als Zweck an ihm selbst. Das ist indessen nur möglich, wenn man nicht automatisch damit aufgehört hat, ihn als Menschen zu behandeln, sobald man damit anfängt, gegen ihn zu kämpfen. Wäre feindseliges, aggressives oder kämpferisches Verhalten anderen gegenüber unvereinbar damit, sie als Menschen zu behandeln, hätten wir Mühe, in dieser Hinsicht weitere Unterscheidungen innerhalb der Kategorie feindseligen Verhaltens zu machen. Solch eine Auffassung würde dann auf der Ebene internationaler Beziehungen zu einer Haltung führen, derzufolge es, falls man keinen bedingungslosen Pazifismus einräumt, nicht unbedingt mehr ein Halten zu geben bräuchte, so daß wir, wenn es uns ratsam schiene, nach Gutdünken metzeln und morden könnten. Dieser Standpunkt wird in Debatten über Kriegsverbrechen nicht selten vertreten.

      Es ist jedoch ein Faktum, daß wir, wenn es um physische oder andere Streitigkeiten zwischen


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