Letzte Fragen. Thomas Nagel
Persönlichkeiten wie die Schriftsteller Lawrence und Mailer haben die Vorzüge des Analverkehrs angepriesen. Anscheinend kann im Prinzip also jeder körperliche Kontakt zwischen einem Mann und einer Frau, der für beide mit sexueller Lust verbunden ist, ein mögliches Medium für das System jener mehrstufigen interpersonellen Wahrnehmung darstellen, in dem, wie ich dargelegt habe, der grundlegende psychologische Gehalt sexueller Beziehungen besteht. Mithin stützt unsere Analyse einen liberalen Gemeinplatz zu diesem Thema.
Die wirklich schwierigen Fälle sind Sadismus, Masochismus und Homosexualität. Die ersten beiden werden weiterhin als Perversionen aufgfaßt, über Homosexualität herrscht Uneinigkeit. In allen drei Fällen hängt das Problem teilweise mit kausalen Faktoren zusammen: Ergeben sich die fraglichen Dispositionen nur dann, wenn die normale Entwicklung gestört worden ist? Aber weil in dieser Frage das Wort »normal« vorkommt, ist sie schon der Form nach zirkulär. Es zeigt sich, daß wir ein unabhängiges Kriterium für einen störenden Einfluß benötigen, aber über kein solches verfügen.
Vielleicht ist es möglich, Sadismus und Masochismus als Perversionen zu klassifizieren, weil dabei keine interpersonelle Reziprozität erreicht wird. Der Sadismus ist schließlich darauf ausgerichtet, passive Selbstwahrnehmung bei anderen hervorzurufen; aber die Handlungen des Sadisten sind aktiv und setzen voraus, daß willkürliche Kontrolle ausgeübt wird – und dadurch kann verhindert werden, daß er sich selbst im erforderlichen Sinn als ein körperliches Subjekt von Leidenschaften wahrnimmt. De Sade behauptet, das Ziel sexuellen Verlangens bestehe darin, unwillkürliche Reaktionen des Partners hervorzurufen, und zwar in erster Linie hörbare. Sicherlich ist die Zufügung von Schmerzen das wirksamste Mittel, dies zu erreichen, aber dabei ist es erforderlich, daß der Sadist seine eigene Spontaneität bis zu einem gewissen Grade einschränkt! Ein Masochist drängt dagegen seinem Partner dieselbe Unfähigkeit auf, die der Sadist sich selbst auferlegt. Der Masochist kann eine befriedigende Verkörperung nur als Objekt der Kontrolle einer anderen Person erfahren, nicht aber als Objekt ihres sexuellen Verlangens. Er verhält sich passiv nicht in Relation zur Leidenschaft seines Partners, sondern im Hinblick auf dessen nichtpassives Verhalten. Außerdem ist die für Schmerz und physischen Zwang charakteristische Unterwerfung unter den Körper von ganz anderer Art als sie für sexuelle Erregung typisch ist: Schmerz führt nicht etwa zu Gelöstheit, sondern zu Verkrampfung. Diese Beschreibungen sind vielleicht nicht in allen Fällen richtig. Aber in dem Maße, in dem sie zutreffen, stellen Sadismus und Masochismus Störungen im zweiten Stadium der Wahrnehmung dar, der Wahrnehmung von sich selbst als einem Objekt des Verlangens.
Homosexualität läßt sich indessen keinesfalls in derselben Weise aus phänomenologischen Gründen als Perversion einstufen. Es gibt hier nichts, wodurch die Entfaltung des gesamten Spektrums interpersoneller Wahrnehmungen zwischen Gleichgeschlechtlichen ausgeschlossen würde. Die Frage muß also in Abhängigkeit davon entschieden werden, ob Homosexualität auf störende Einflüsse zurückgeführt werden kann, welche die natürliche Tendenz zu einer heterosexuellen Entwicklung blockieren oder beeinträchtigen. Und die Einflüsse müßten dabei in weitaus höherem Grade störend sein als jene, die zu einer Vorliebe für große Brüste, für blonde Haare oder für dunkle Augen führen. Denn auch dabei handelt es sich um Zufälligkeiten der sexuellen Neigungen, in denen sich die Menschen voneinander unterscheiden, ohne allerdings pervers zu sein.
In Frage steht also, ob sich die männlichen und weiblichen Dispositionen naturgemäß heterosexuell äußern, sofern sie nicht gestört werden. Das ist eine recht dunkle Frage, und ich weiß nicht, wie man sie beantworten könnte. Mancherlei spricht tatsächlich für eine aggressiv-passiv Differenzierung zwischen männlicher und weiblicher Sexualität. In unserer Kultur löst gewöhnlich die Erregung des Mannes den Austausch der Wahrnehmungen aus; die sexuelle Annäherung geht meist von ihm aus, er kontrolliert großenteils den Verlauf des Akts und natürlich ist er es, der penetriert, während sie empfängt. Haben zwei Frauen oder zwei Männer Geschlechtsverkehr miteinander, können nicht beide zugleich an diesen sexuellen Rollen festhalten. Aber auch bei heterosexuellem Geschlechtsverkehr treten beträchtliche Abweichungen von diesen Rollen auf. Frauen können sich sexuell durchaus aggressiv und Männer passiv verhalten, und es ist nicht ungewöhnlich, daß in einem länger andauernden heterosexuellen Austausch zeitweilig die Rollen gewechselt werden. Aus diesen Gründen scheint es zweifelhaft zu sein, ob Homosexualität eine Perversion sein muß, wenngleich sie, und zwar nicht anders als die Heterosexualität, pervertierte Formen annehmen kann.
Ich möchte mit einigen Bemerkungen über das Verhältnis von Perversionen zum Guten, zum Schlechten und zur Moral schließen. Man kann sich kaum vorstellen, daß der Begriff der Perversion nicht in gewissem Sinne wertend sein sollte, denn er scheint mit dem Gedanken eines Ideals oder immerhin mit der Vorstellung einer erfüllten Sexualität zusammenzuhängen, die von Perversionen in der einen oder anderen Weise nicht erreicht werden kann. Soll der Begriff also haltbar sein, muß das Urteil, daß eine Person, eine Praxis oder ein Wunsch pervers ist, eine sexuelle Wertung ausdrücken; und das impliziert, daß eine bessere Sexualität oder eine bessere Form von Sexualität möglich ist. Dies allein ist noch eine recht schwache Behauptung, denn Wertung könnte ja auch in einer Dimension erfolgen, die für uns nur von geringem Interesse ist. (Vorausgesetzt, meine Überlegungen sind richtig, wird dies allerdings schwerlich der Fall sein.)
Es ist aber eine gänzlich andere Frage, ob es sich in diesem Falle um eine moralische Wertung handelt – eine Frage, deren Beantwortung ein tieferes Verständnis sowohl der Moralität als auch von Perversionen erfordern würde, als es hier erreicht werden kann. Die moralische Wertung von Taten und Personen ist eine eigentümliche und höchst verwickelte Angelegenheit, und bei weitem nicht jede unserer Bewertungen von Personen und ihren Tätigkeiten ist bereits eine moralische Wertung. Wir fällen über die Schönheit, die Gesundheit oder die Intelligenz anderer ein Urteil, das durchaus bewertend und gleichwohl nicht ethischer Natur ist. Beurteilungen menschlicher Sexualität mögen in dieser Hinsicht vergleichbar sein.
Darüber hinaus ist es – wenn wir moralische Fragen nun einmal beiseite lassen – keineswegs selbstverständlich, daß nichtpervertierte Sexualität etwa den Perversionen notwendigerweise vorzuziehen ist. Es könnte so sein, daß irgendeine Form von Sexualität, die wegen ihrer Vollkommenheit als Sexualität am höchsten einzustufen wäre, weniger lustvoll ist als gewisse Perversionen; und wenn Lust für sehr wichtig gehalten wird, könnte dieser Gesichtspunkt bei der Ermittlung rationaler Präferenz schwerer ins Gewicht fallen als Überlegungen, die Vollkommenheit betreffen.
Damit kommt die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem wertenden Gehalt von Urteilen über Perversionen und der eher alltäglichen generellen Unterscheidung von guter und schlechter Sexualität auf. Diese letztere Differenzierung beschränkt sich normalerweise auf sexuelle Akte, und es scheint, daß sie bis zu einem gewissen Grade unabhängig von der anderen Unterscheidung ist: Wer Homosexualität für eine Perversion hält, kann trotzdem zugestehen, daß man zwischen besserer und schlechterer homoerotischer Sexualität unterscheiden kann, und er könnte sogar anerkennen, daß gute homoerotische Sexualität bessere Sexualität sein kann als ziemlich schlechte ›nichtpervertierte‹ Sexualität. Stimmt dies, wird damit also die Ansicht gestützt, daß die Frage, ob etwas als Perversion zu beurteilen ist (immer vorausgesetzt der Begriff der Perversion sei haltbar), höchstens einen Aspekt möglicher Wertung von Sexualität, ja sogar von Sexualität qua Sexualität, abdeckt. Er ist nicht einmal der einzige wichtige Aspekt: Auch sexuelle Unvollkommenheiten, bei denen es sich offensichtlich nicht um Perversionen handelt, können von größter Wichtigkeit sein.
Und selbst wenn pervertierte Sexualität bis zu einem gewissen Grade nicht so gut wäre, wie sie es sein könnte, bliebe schlechte Sexualität allemal noch immer besser als gar keine. Dies sollte eigentlich unstreitig sein: Denn nichts anderes scheint auch für andere wichtige Dinge, etwa für Essen und Trinken, für Musik, für Literatur und für den Kontakt zu anderen Menschen zu gelten. Letzten Endes muß man ja unter den Alternativen wählen, die einem wirklich offenstehen, wobei es ohne Bedeutung ist, ob es auf das äußere Umfeld oder auf eigene Veranlagung zurückzuführen ist, daß einem gerade diese Alternativen offenstehen. Und die Alternativen müssen schon ungemein düster sein, bevor es vernünftig wird, sich für schlechterdings nichts zu entscheiden.
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