Letzte Fragen. Thomas Nagel
dem Opfer als einem Vernunftwesen erwarten, daß es sie zu würdigen weiß. Gleichwohl scheint mir, daß diese ganze Sichtweise immer schon als solche etwas prinzipiell Fehlerhaftes an sich hat, denn sie ignoriert, daß wir uns, indem wir jemandem widerwärtige Dinge antun, in eine besondere Beziehung zu ihm begeben, die wir durch andere Charakteristika unseres Verhältnisses zu ihm rechtfertigen müssen. Diese theoretische Vermutung bedarf noch sehr der Vertiefung, aber sie könnte uns verständlich machen, wie es Schuldigkeiten geben kann, die in dem Sinne absolut sind, daß überhaupt keine Rechtfertigung mehr dafür möglich ist, sich ihnen zu entziehen. Müßte die Rechtfertigung dafür, was man einem anderen Menschen antut, so beschaffen sein, daß man damit vor ihn als Individuum, nicht vor die Welt im ganzen treten könnte, wäre dies eine wichtige Quelle ethischer Restriktionen.
Ich glaube, daß man diese Erklärung am ehesten durch die folgenden Überlegungen vertiefen kann: Der Absolutist sieht sich als winziges Wesen in Interaktion mit anderen in einer unermeßlich weiten Welt, und die Rechtfertigungen, die er uns abverlangt, sind in erster Linie zwischenmenschlicher Natur. Der Utilitarist hingegen versteht sich als wohlmeinenden Bürokraten, der die Wohltaten, über die er verfügen mag, auf eine erhebliche Anzahl anderer verteilt, zu denen er die vielfältigsten Beziehungen haben mag oder auch gar keine. Die Rechtfertigungen, die er für erforderlich hält, sind in erster Linie administrativer Natur. Es kann sein, daß die Diskussion zwischen den beiden moralischen Einstellungen letzten Endes davon abhängt, welcher dieser beiden Auffassungen relative Priorität gebührt.7
VI
Ein Teil der Restriktionen, die sich von Zeit zu Zeit einmal in der Frage zulässiger Methoden der Kriegführung durchgesetzt haben, läßt sich mit dem Eigeninteresse der beteiligten Parteien erklären: Verbote, die sich auf die Art der eingesetzten Waffen beziehen, die Behandlung von Kriegsgefangenen betreffen und so weiter. Aber es steckt noch mehr dahinter. Die beiden Grundbedingungen der Direktheit und der Relevanz, von denen ich zeigen wollte, daß sie für jede Beziehung gelten, die einen Konflikt oder eine Aggression darstellt, haben auch für den Krieg ihre Gültigkeit. Ich habe behauptet, daß es in der Kriegführung zwei Typen absolutistischer ethischer Restriktionen gibt: Jene, welche die Stoßrichtung demarkieren, also abgrenzen, wogegen sich Feindseligkeit legitimerweise nur richten darf, und jene, die beschränken, wie Feindseligkeiten, selbst wenn ihre Stoßrichtung stimmt, allein beschaffen sein dürfen. Ich werde jetzt über jeden Typus etwas sagen, und dabei wird sich zeigen, daß wir mit Hilfe des oben skizzierten Prinzips nicht in jedem Fall zu einer unzweideutigen Antwort gelangen können.
Schauen wir uns zuerst an, inwiefern daraus folgt, daß man nur bestimmte Menschen angreifen darf, andere hingegen nicht. Die Behauptung mag etwas Paradoxes an sich haben, wir behandelten jemanden, den wir mit dem Maschinengewehr beschießen, während er selbst Handgranaten gegen unsere Stellung schleudert, als Menschen. Gleichwohl ist die Beziehung hier direkt und unkompliziert.8 Die Reaktion ist ausdrücklich gegen die von einem gefährlichen Angreifer ausgehende Bedrohung gerichtet und nicht gegen ein peripheres Ziel, in dem er zufällig verwundbar ist, das aber mit der Bedrohung nichts zu tun hat. Zum Beispiel könnten wir ihn aufhalten, indem wir seine Frau und seine Kinder, die zufällig in der Nähe sind, über den Haufen schießen, ihn auf diese Weise davon ablenken, uns in die Luft zu sprengen, und ihn so gefangen nehmen. Stellen seine Frau und seine Kinder aber keine Bedrohung für unser Leben dar, hieße dies, sie in ganz extremer Weise als bloße Werkzeuge zu gebrauchen.
Und das wäre nichts anderes als Hiroshima im kleineren Maßstab. Einer der Vorbehalte gegen Massenvernichtungswaffen – seien es nukleare, thermonukleare, biologische oder chemische – lautet, daß sie wegen der Wahllosigkeit ihres Zuschlagens als direktes Ausdrucksmittel einer feindseligen Beziehung untauglich sind. Indem man die Zivilbevölkerung angreift, zollt man weder dem militärischen Gegner noch dem Zivilisten jenes Minimum an Achtung, das man ihnen als Menschen schuldig ist. Bei einem direkten Angriff auf jemanden, von dem nicht die mindeste Bedrohung ausgeht, liegt dies auf der Hand. Nicht minder gilt es aber auch für die Art und Weise, wie man Menschen attackiert, die uns wirklich bedrohen, also die Regierung und Streitkräfte des Feindes. Man richtet seine Aggression gegen einen äußerst verwundbaren Bereich weit abseits jeglicher Bedrohung durch jene, bei denen es gegebenenfalls legitim gewesen wäre, wenn die Aggression sie getroffen hätte. Man hat sie im Visier, aber durch das Alltagsleben und Überleben ihrer Landsleute hindurch, statt auf dem Wege der Zerstörung ihrer militärischen Kapazitäten. Und natürlich bedarf es nicht erst der Wasserstoffbombe, solche Verbrechen zu begehen.
Betrachtet man die Sache so, hilft uns dies, die Wichtigkeit der Unterscheidung von Kämpfern und Nichtkämpfern und Irrelevanz eines Großteils der mit Blick auf die Verständlichkeit und moralische Bedeutung dieser Differenz vorgebrachten Kritik zu verstehen. Nach Auffassung des ethischen Absolutismus ist jederlei vorsätzliche Tötung Unschuldiger nichts anderes als Mord – und im Krieg sind es für den Angreifenden freilich die Nichtkämpfer, die den Status dieser Unschuldigen haben. Nun war man der Ansicht, daß sich daraus aber zweierlei Probleme ergeben: Erstens die in manchen Köpfen spukende Schwierigkeit, in der modernen Kriegführung wirklich noch zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern zu trennen, und zweitens Probleme, die von Konnotationen des Worts »unschuldig« aufgeworfen werden.
Lassen Sie mich die zweite Problematik zuerst ansprechen.9 Aus absolutistischer Sicht ist der hier wirksame Begriff der Unschuld gerade nicht jener der moralischen Unschuld, und er steht auch nicht dem Begriff der moralischen Schuld entgegen. Sonst nämlich sähe man sich darin gerechtfertigt, in einer feindlichen Stadt einen durch und durch schlechten, aber nicht zu den Kämpfern gehörenden Friseur umzubringen, der die verbrecherische Politik seiner Regierung zuinnerst unterstützt, jedoch nicht darin gerechtfertigt, dies einem moralisch integeren Rekruten anzutun, der zu seinem größten Bedauern und mit einem von Liebe erfüllten Herzen seinen Panzer direkt auf uns zurollen läßt. Aber moralische Unschuld spielt hier schwerlich eine Rolle, denn in unserer Definition von Mord bedeutet ›unschuldig‹ so viel wie ›x ist derzeit harmlos‹ und steht im Gegensatz nicht etwa zum Begriff der Schuld, sondern zu dem Begriff: ›von x geht derzeit Gefahr aus‹. Man beachte, daß diese Analyse zu der Konsequenz führt, daß wir im Krieg häufig darin gerechtfertigt sein können, Menschen zu töten, die den Tod nicht verdient haben, während wir gegebenenfalls nicht gerechtfertigt wären, Menschen zu töten, die tatsächlich den Tod verdient haben, wenn ihn überhaupt noch jemand verdient.
Wir müssen also die Unterscheidung zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern aufgrund ihrer momentanen Bedrohlichkeit oder Gefährlichkeit treffen. Ich behaupte nicht, daß das eine scharfe Grenze markiert, aber so schwierig, wie häufig behauptet wird, ist es gar nicht, die einzelnen Personen einer der beiden Seiten zuzuordnen. Kinder sind keine Kämpfer, auch wenn sie vielleicht in die Armee eintreten werden, falls man es ihnen gestattet, erwachsen zu werden; und Frauen sind nicht deshalb schon Kämpfer, weil sie Kinder auf die Welt bringen oder den Soldaten Trost und Wärme spenden. Problematischer verhält es sich mit dem breiten Spektrum des nichtuniformierten oder auch uniformierten Versorgungspersonals, das vom Fahrer eines Munitionstransporters oder vom Armeekoch bis hin zu zivilen Arbeitern in Munitionsfabriken und in der Landwirtschaft reicht. Ich glaube, daß man auch sie mit guten Gründen der einen oder der anderen Seite zuordnen kann, indem man auf die Grundbedingung zurückgreift, daß sich die Maßnahmen im Konfliktfall gegen die Ursache der Gefährdung selbst richten müssen und nicht gegenirgend etwas Peripheres. Die Bedrohung, die von einer Armee und mithin von jenen ausgeht, die ihr angehören, geht nicht einfach in dem Tatbestand auf, daß da Menschen eingesetzt werden, sondern besteht in dem Faktum, daß solche Menschen bewaffnet sind und Waffen einsetzen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Ein Beitrag zur Bewaffnung und Logistik ist ein Beitrag zu ebendieser Bedrohung; ein Beitrag zu ihrer puren Existenz als Menschen hingegen nicht. Deshalb ist es unrecht, einen Angriff gegen Menschen zu richten, die nur zur Befriedigung humaner Bedürfnisse der Kämpfer beitragen, wie Bauern und Lieferanten von Proviant, und zwar auch dann, wenn menschliches Überleben eine der notwendigen Bedingungen für soldatische Effizienz ist.
Das bringt uns zu der zweiten Klasse ethischer Auflagen: zu Restriktionen, die alldem Grenzen ziehen, was man sogar Kämpfern antun darf.