Innozenz. Gion Mathias Cavelty
Kapitel L
I
Kaum sehen wir, lügen wir.
Kaum hören wir, lügen wir.
Kaum riechen wir, lügen wir.
Kaum schmecken wir, lügen wir.
Kaum fühlen wir, lügen wir.
Kaum denken wir, lügen wir.
Kaum sprechen wir, lügen wir.
Kaum schreiben wir, lügen wir.
Kaum lesen wir, lügen wir.
II
Ich bin das Buch, das Dich liest.
In mir steht kein einziges Wort.
Meine Seiten sind weiß wie das weißeste Weiß.
Vor Dir habe ich schon in vielen anderen Köpfen gelesen.
Dabei war der Kopf, der mich am meisten beschäftigte, jener von Innozenz de Innozentis.
Wer dieser Innozenz de Innozentis war? Nun: Man kann ihm nur näherkommen, wenn man sich vergegenwärtigt, was er NICHT war.
Er wurde nicht dann und dann geboren.
Er brauchte keine Luft zum Atmen.
Er brauchte nichts zu essen.
Er brauchte nichts zu trinken.
Er brauchte nicht zu schlafen.
Er brauchte seinen ganzen Körper nicht.
Nichts Weltliches brauchte er.
Sagen wir also: Er war die reine Unschuld. Er war ein Heiliger.
III
Die Bekanntschaft von Innozenz machte ich im päpstlichen Schlafzimmer zu Rom.
Wie ich nach Rom gekommen war? Als schnöde Einlieferung ins Archivum Secretum Apostolicum Vaticanum durch einen beschränkten lombardischen Monsignore. Das konnte man mit mir natürlich nicht machen! Denn ich bin das ursprüngliche, jungfräuliche Buch; niemand hat mich je besudelt, niemand meine Seiten mit eitlem, ödem, niederträchtigem Geschreibsel befleckt.
Ich bin dann abgehauen aus dem elenden Geheimarchiv und nach einem ausgedehnten Streifzug durch den Apostolischen Palast schließlich im erwähnten Schlafgemach gelandet.
Von meinem Versteck hinter einem lammledernen Inquisitorenköfferchen aus hatte ich eine ausgezeichnete Sicht auf alles, was sich im prunkvollen Raum abspielte.
Papst Abundius lag in seinem Bett, in das er sich auf Anraten seiner Ärzte zurückgezogen hatte; im Vatikan kursierte seit einigen Tagen eine Magen-Darm-Grippe. Ein hermelingefütterter Camauro bedeckte seinen Kopf.
Heiliggeistweiß leuchtete die Sonne ins acht Meter hohe Gemach. Durch ein geöffnetes Fenster wehte der Hymnus »Veni Creator Spiritus« herein, den ein Kastratenchor in der Sixtinischen Kapelle gerade zum Besten gab. Auf einem Nachttisch dampfte ein Blumenkohlsüppchen vor sich hin; der Papst war bekannt dafür, ausschließlich weiße Speisen zu sich zu nehmen.
IV
Ein dreifaches Pochen an die Doppelflügeltür verkündete Innozenz’ Ankunft. Er war aus der Abgeschiedenheit seines Klosters am hintersten Ende eines unwegsamen Vogesentals in die Ewige Stadt gekommen; die Ordenstracht der Odilianer kleidete ihn. Sie war so weiß, dass sie den Alabaster, aus dem Wände, Decke und Boden des Schlafzimmers bestanden, in den Schatten stellte.
Sich auf die heilige Odilia berufend, die blind zur Welt gekommen war, wussten die Odilianer genau, dass auf die Augen kein Verlass ist – ja, dass die Augen nur allzu leicht zu Spielbällen des Teufels werden können – und man nur mit einem unbefleckten Herzen gut zu sehen vermag. Wie heißt es doch im bekanntesten Odilia-Gebet:
»O Odilia, selige Jungfrau!
Verleihe, dass wir nach Deinem Beispiele
Unsere Augen abwenden vom eitlen Wahn der Welt
Und das Augenlicht, das Dir
der Vater allen Lichtes geschenkt,
Nicht missbrauchen zur Augenlust.
Amen.«
Tatsächlich verlieh Gott Odilia im Alter von zwölf Jahren bei ihrer Taufe das Augenlicht; dabei wollte sie gar nicht sehen können. Genauso wenig wie hören, riechen, schmecken oder fühlen. Denn selbstredend können nicht nur die Augen, sondern auch die Ohren, die Nase, der Mund und der ganze Rest im Handumdrehen zu Instrumenten des Satans werden.
V
Cubicularius Guazzo führte Innozenz herein.
Innozenz kniete vor dem Bett nieder und küsste den anulus piscatoris, der am Ringfinger der behandschuhten Rechten des Papstes prangte.
»Heiliger