Innozenz. Gion Mathias Cavelty
zu lockern, denn in der Brusttasche war ich schon recht eingeengt.
»Meister«, wandte ich mich an Innozenz, »seid so gut und legt mal einen Halt ein, mir zuliebe, dem Büchlein mit den blütenweißen Blättern, das Eurem Herzen so nahesteht.«
»Was für eine Überraschung«, las ich in ihm seine Antwort. »Ein Lebenszeichen von meinem blinden Passagier. Komm getrost heraus, ich werde keine Eselsohren in deine Seiten machen.«
Ich kletterte aus der Tasche und schwang mich auf seine Schulter.
»Ihr wusstet, dass ich mich bei Euch eingeschmuggelt habe?«, fragte ich erstaunt.
»Schon die ganze Zeit. Wusstest du nicht, dass ich es wusste? Was bist denn du für ein Leser?«
»Ich habe ja erst gerade angefangen, in Euch zu schmökern«, verteidigte ich mich beschämt. »Über die Einführung bin ich noch gar nicht hinaus. Bis ich mich richtig in Euch eingelesen habe, braucht es noch eine Weile. Jeder Kopf ist anders, jeden Kopf muss man anders nehmen. Das erfordert eine gewisse Einarbeitungszeit.«
X
So begann unsere Freundschaft.
Und so begann die vertiefte Auseinandersetzung mit Innozenz’ Gedanken.
Es waren wundervolle Gedanken, die mich in grenzenloses Staunen versetzten.
Einerseits waren es wohlbekannte Gebete, die ich immer und immer wieder lesen durfte; durch die ständige Repetition eine höchst wirkungsvolle Technik, dank der Innozenz geistig ständig in himmlische Sphären transzendierte: »Magnificat anima mea Dominum … magnificat anima mea Dominum … magnificat … magnificat … magnificat … magnificat anima mea Dominum …«
Viele seiner Gedanken waren torusförmig, hatten keinen Anfang und kein Ende, bissen sich gleichsam in den Schwanz. Der Torus schien eine ganz besonders heilige Figur zu sein. Die Tori in Innozenz’ Kopf rotierten, rotierten, rotierten …
Dann waren da die Henochischen Silben, also Silben aus der Sprache, in der Gott mit seinen Engeln kommuniziert; völlig unfassbare Konstruktionen, die mich in ihren Bann zogen; ich konnte sie nicht verstehen, aber sie waren pure Mystik.
Keinen einzigen Schweißtropfen vergoss Innozenz während der Wanderung. Pausen gab es nun regelmäßig; besonders gute Gelegenheiten für Lektüreeinheiten. Zumeist wurden sie auf dem Wipfel eines hohen Baumes abgehalten, inmitten stiller Waldeinsamkeit.
XI
Auf unserem Weg vollbrachte Innozenz ein Wunder nach dem anderen.
Ein Panthertier befreite er von seiner perversen Wollust.
Einen Löwen von seiner unerträglichen Hoffart.
Eine Wölfin von ihrer unfassbaren Habgier.
Einem Luchs war ein gewaltiger Felsbrocken auf seinen Schwanz gefallen; aus eigener Kraft konnte sich das arme Tier nicht aus dieser Falle befreien. Innozenz hob den Stein drei Handbreit in die Luft, allein durch die Kraft seines Herzens, und der Luchs verschwand dankerfüllt im Unterholz. Den Felsen ließ Innozenz danach wieder sacht zu Boden sinken.
Auch einem alten Wildschwein mit düsteren Gedanken konnte Innozenz helfen, ursprünglich gegen den Willen des Keilers; umso dankbarer war er dem heiligen Mann danach, dass er nun wieder lichte Gedanken zu spinnen vermochte. Als Erinnerung an dieses Wunder sollte fortan stets ein goldenes Kreuz über seinem Scheitel schweben.
Und so gab es noch viele, viele Wunder, die Innozenz auf unserem Fußmarsch tat.
Er lud die Würmer und die Vögel zum friedlichen Mahle.
Einer Amsel, die auf seinem Zeigefinger gelandet war und drei himmelblaue Eier auf die Handfläche gelegt hatte, gestattete er, die Eier auszubrüten, und hielt die Hand so lange geöffnet, bis die Vögelchen geschlüpft waren.
Einmal wollte eine Bande von Wegelagerern uns überfallen; Innozenz ließ sein Herz nur ein unhörbares Wort sprechen, und die Strauchdiebe warfen sich vor ihm auf die Erde und bereuten alle ihre Sünden. Alsdann erhoben sie sich und gelobten feierlich, nur noch Gutes zu tun.
XII
Es war tiefste Nacht, als wir Schwamendingen erreichten.
Der Regen peitschte Innozenz ins Gesicht.
In einem Haus brannte noch Licht; »Gasthaus Hirschen« stand auf einem im Sturm schwankenden Holzschild geschrieben.
Durch kniehohen Schlamm bahnte sich Innozenz einen Weg zum benannten Gebäude.
Er stieß die Tür auf; ein niedriger, schummriger Schankraum tat sich vor uns auf; die Bühne für eine ganz eigene Art von Welttheater.
Im flackernden Schein des Herdfeuers zu erkennen: Bauern und Dorfhandwerker mit Nasen groß wie Kartoffeln; leerer Blick; mechanisch einen Becher Wein nach dem anderen in sich hineinschüttend. Den meisten fehlte irgendetwas – ein Finger, eine Hand, ein Arm, ein Bein oder gleich mehrere Finger respektive beide Hände, Arme oder Beine.
An der Decke über dem Feuer baumelnd: Würste; mit Schweinsinnereien gefüllte Monstrositäten, die einen entsetzlichen Gestank verströmten. In Frankreich sind sie als Andouilletten bekannt und berüchtigt.
Trümmlige – wie man in diesen Breitengraden sagt – Schalmeienklänge verseuchten die Atmosphäre zusätzlich; Urheber war ein fahrender Spielmann, offensichtlich ein blutiger Anfänger.
Hinter dem Tresen stand ein plumper, schnauzbärtiger Hüne in einem blutbespritzten weißen Unterhemd; schwer schnaufend traktierte er den vor sich liegenden Kadaver einer Sau mit einem Hackbeil.
Wie alle im Raum Anwesenden ignorierte auch er uns komplett.
Dieser Fleischgeruch in der Luft – nicht auszuhalten!
Ja – das hier war das Reich des Fleisches. Mich schauderte.
Innozenz setzte sich ungerührt an einen Tisch.
Aus dem Nichts erschien ein junges Weibsbild mit bis zu den Waden reichenden feuerroten Locken. Was Innozenz zu konsumieren wünsche? – Die Spezialität des Hauses, erwiderte dieser.
Die Spezialität des Hauses: selbstredend Würste aus Schweinedarm und -magen. Alternativ: Hörnli mit Ghacktem und Auberginenmus.
Innozenz wählte Variante zwei; die er dann schnell mir zuschob, als sie ihm von der Rothaarigen serviert worden war – menschliche Nahrung brauchte er keine. Ich hockte unter dem Tisch und schlang die kleinen, gebogenen Makkaroni gierig hinunter, denn ich hatte schon lange nichts mehr zu futtern gehabt. Natürlich achtete ich penibel darauf, dass meine Seiten keine Flecken davontrugen.
XIII
Nachdem ich fertig gespeist hatte, sah ich mich etwas genauer im Raum um; Innozenz schien an derlei kein Interesse zu verspüren und saß nur abwesend auf seinem Stuhl.
Links der Theke führte eine Treppe in den oberen Stock; dort befanden sich drei Gästezimmer. Eine Tür rechts davon führte in ein Hinterzimmer, in das sich in regelmäßigen Abständen Bauern verzogen. Nach einigen Minuten rhythmischen Stöhnens kam der Betreffende wieder heraus, und ein Neuer ging rein. Der Wirt betrieb offenbar nicht nur ein Gasthaus, sondern auch ein Bordell.
In einem besonders dunklen Winkel, an einem separierten Ecktisch sitzend, machte ich drei Gestalten aus: einen Pfarrer, einen Narren und einen … grünen Dämon! Ja, das war ganz klar ein Dämon, kein Zweifel!
Die drei frönten dem Kartenspiel.
Der Narr, eine abstoßende Kreatur mit Hasenscharte, Segelohren und Buckel, trug ein Kostüm aus notdürftig zusammengenähten Flicken in freudlosen Brauntönen und eine dreizipflige Narrenkappe mit Schellen; die linke Schelle war abgerissen.