Tagebücher der Henker von Paris. Henry Sanson

Tagebücher der Henker von Paris - Henry Sanson


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So gingen sie etwa hundert Schritte fort, dann hielten sie an, und mein Ahne spürte durch die schlechte Leinwand, die ihm als Maske diente, den scharfen und üblen Geruch von heißem Fett, der den Pariser Kneipen eigen ist.

      Man flüsterte um ihn, er hörte das dumpfe Knarren einer Falltür und fast zugleich einen tumultuarischen Lärm von Gesang, Geschrei und Lachen, der aus der Erde heraufzudringen schien.

      Seine Führer ließen ihn eine Leiter hinabsteigen. Die Worte derer, denen er sich näherte, wurden immer bestimmter; das Geschrei: »Der Henker! Der Henker!« und ironische Beifallsrufe vereinigten sich zu einem höllischen Konzert, aber in dem Augenblick, wo der Fuß des Scharfrichters die letzte Leiterstufe verließ, befahl eine Stimme Schweigen, und der Lärm hörte sofort auf. Dieselbe Stimme wies darauf diejenigen, welche »den Herrn Beamten des Königs« führten, an, die Fesseln und den Knebel abzunehmen, was auch sogleich geschah.

      Aus der großen Vorsicht, die man bei ihm gebrauchte, hatte Sanson von Longval geschlossen, dass man ihm nicht an das Leben wolle; dennoch erkannte er, als er die Augen frei hatte, dass er sich mitten in einer Gesellschaft der furchtbarsten Banditen der Stadt befinde.

      Als der Lärm, den die Gegenwart des Henkers hervorbrachte, aufgehört hatte, nahmen alle diese Personen ihre unterbrochenen Beschäftigungen wieder auf. Die einen spielten, andere tranken, einige, die mit leiser Stimme zueinander sprachen, schienen irgendwelche Unternehmungen zu verabreden. Die Ältesten und Jüngsten beschäftigten sich mit den Mädchen, großen und starken Frauenzimmern mit blitzenden Augen und kühnen Gebärden, von deren Gesichtern man bloß das Profil zu sehen brauchte, um ihnen den Platz, der ihnen in der Gesellschaft zukam, anweisen zu können.

      Sanson von Longval wusste, wie nützlich es ihm sein würde, nicht eingeschüchtert zu erscheinen; er war entschlossen, zuerst das Wort zu ergreifen und die Leute zu fragen, was sie von ihm wollten, als ein Greis, den er noch nicht bemerkt hatte und der ganz in eine Partie, die er mit einem seiner Gefährten spielte, vertieft war, die Absicht des Gefangenen zu erraten schien und ihm durch einen Wink mit der Hand Schweigen und Geduld gebot.

      Sanson von Longval glaubte seine Zeit nicht besser anwenden zu können, als sich diesen Greis zu betrachten, der, nach der Achtung zu urteilen, die ihm alle Anwesenden bezeugten, die erste Rolle an diesem Orte spielte.

      Es war eine sonderbare, fast fantastische Figur.

      Er schien bereits die letzte Grenze des Menschenalters erreicht zu haben; seine Haut war fahl, verschrumpft und mit Runzeln bedeckt, die keinen anderen Zweck zu haben schienen, als einen unbeschreiblichen Eindruck zu machen.

      Das Spiel hatte ihn so erhitzt, dass er, unbesorgt darüber, seinen kahlen Schädel zu entblößen, seine Perücke abgenommen hatte, die nun ein großes rothaariges Mädchen, das neben ihm saß, nicht ohne eine gewisse Ehrerbietigkeit wie einen Falken auf ihrer Hand trug. Er war mit einem dunkelgelben Wamse und ebensolchen Hosen bekleidet und trug hohe Stiefel von Büffelleder mit silbernen Sporen. Der Schnitt seiner Kleider war ein wenig altmodisch, ihre Stickerei glanzlos und schadhaft, aber er trug sie mit einem Stolze, der mit der geborgten Eleganz seiner Genossen in großem Widerspruche stand, und in der Art und Weise, wie er den langen Degen mit eisernem Korbe, der am Bandeliere hing, zwischen seinen Beinen hielt, lag eine Leichtigkeit, die mehr an den Edelmann als an den Banditen erinnerte.

      Das Glück war ihm nicht günstig; er verlor und warf die Karten mit einem gaskognischen Fluche, bei dem mein Ahne erzitterte, weit von sich.

      Das Gesicht des Greises hatte keine Erinnerung in ihm erweckt, aber diesen Fluch glaubte er schon oftmals von einer Stimme gehört zu haben, die sonderbarerweise derjenigen ähnelte, die ihn soeben ausgestoßen hatte.

      Indessen war der alte Spieler auf die Tonne gestiegen, die ihm soeben noch als Tisch gedient hatte; durch eine Handbewegung rief er alle Anwesenden um sich zusammen, und dann wandte er sich an Sanson von Longval mit affektierter Höflichkeit, und indem er es vermied, sich des Diebsidioms, in dem sich seine Genossen ausdrückten, zu bedienen, fragte er ihn, ob er wirklich der Scharfrichter der Stadt Paris sei.

      »Ja,« erwiderte mein Ahne in rauem Tone. »Was wollen Sie von mir? Ihresgleichen vermeidet mich gewöhnlich eher, als es mich sucht.«

      Bei dieser Antwort verzog sich der Mund des Greises zu einer Grimasse, die zweifellos ein Lächeln vorstellen sollte, und er erwiderte mit liebenswürdiger Miene:

      »Cap de Dions! Ich schwöre Ihnen, mein lieber Herr, dass Sie sich in uns täuschen.«

      »Nun kurz, was wünschen Sie? Warum haben Sie mich zum Gefangenen gemacht und hierher geführt? Warum haben Sie meinen Knecht ermordet?«

      »Das sind Kleinigkeiten von geringer Wichtigkeit; man macht keine Omelette, ohne Eier zu zerschlagen. Kommen wir direkt zu dem, mein lieber Herr, was uns beschäftigen soll. Wir bedurften Ihrer Dienste, wir hätten sie wahrscheinlich vergebens erbeten und haben es daher so eingerichtet, dass wir sie fordern können; haben wir das nicht gut gemacht?«

      Sanson von Longval machte nur eine Gebärde der Nichtachtung.

      »Es gibt hier einen Menschen, der zum Tode verurteilt ist,« fuhr der Greis mit seiner ironischen Kaltblütigkeit fort, »und wir wollen nicht in Ihre Rechte und Privilegien eingreifen. Man wird Ihnen diesen Mann überliefern, und wir hoffen, dass Sie uns nicht die Ehre verweigern werden, Zeugen Ihrer Geschicklichkeit sein zu dürfen.«

      »Ein Verurteilter?« rief Sanson von Longval, seinerseits in Lachen ausbrechend; »ein Verurteilter? Durch wen ist er verurteilt? Durch das Châtelet, die Kriminalkammer oder den Herrn Polizeileutnant? Sie, der Sie zu mir sprechen, sind wahrscheinlich der Schreiber des Gerichtshofes, und ohne Zweifel werden Sie mir auch die Sentenz in aller Form vorlegen können! Wo ist die Prozedur, wo der Befehl zur Hinrichtung, damit ich sogleich meine Leute beauftragen kann, die Stricke zu schmieren oder das Schwert zu schleifen?«

      »Mein Herr, Sie sollten überzeugt sein, dass jeder Widerstand unnütz ist. Diese Herren haben beschlossen, sich das Vergnügen einer Hinrichtung nach allen Regeln zu machen, bei der es an nichts fehlen soll, selbst nicht an Ihnen, und wenn Sie wüssten, bis wie weit dieselben ihren Eigensinn zu treiben pflegen, so würden Sie uns mit Ihren überflüssigen Protestationen verschonen. Übrigens, um Ihr Gewissen ganz vorwurfsfrei zu lassen, können sowohl ich wie meine Kameraden Ihnen versichern, dass der Mann, an dem Sie Ihre Talente ausüben sollen, ebenso schuldig ist, als jemals einer am Ende des hübschen Strickes gehangen hat, von dem Sie eben zu uns sprachen.«

      »Eine schöne Kaution, die Sie mir da stellen!« sagte Sanson von Longval barsch. »Mein Schwert ist, wie Sie wissen müssen, das Schwert des Gesetzes. Ich kann es gegen Sie ziehen, aber nie wird es für Sie seine Scheide verlassen. Wenn Sie Morde zu vollziehen haben, so nehmen Sie Ihre Dolche zu Hilfe; diese werden keine Veranlassung haben, sich zu weigern.«

      Ein Gemurmel des Zornes durchlief die Versammlung; der Greis machte eine Bewegung, und alles schwieg wieder still.

      Sanson von Longval begann sich über die Langmut zu wundern, mit welcher der Greis seine Beleidigungen ertrug, und die Vermutung stieg in ihm auf, dass jene einen geheimnisvollen Zweck verdecke.

      Zwei der Leute, über die er zu gebieten schien, traten aus der Gruppe auf eine enorme Tonne zu, die auf einem Untersatze lag; sie stießen gegen den Boden, der sich nun wie eine Tür drehte. Mein Ahne vernahm ein Stöhnen, das anzeigte, dieser Käfig neuerer Art sei bewohnt, und wirklich zogen die Banditen einen gefesselten Mann heraus und schleppten ihn an den Füßen vor diesen eigentümlichen Gerichtshof.

      Mein Ahne hatte Mühe, die Gesichtszüge des Gefangenen zu unterscheiden.

      Der Greis stieg nun von seinem Sitze nieder, nahm eine der Lampen samt der Kette, mit der sie befestigt war, und indem er dieselbe dem Unglücklichen vor das Gesicht hielt, sagte er zu dem Scharfrichter:

      »Kennen Sie ihn?«

      Als Sanson von Longval ihm antwortete, dass er diesen armen Menschen schon seit mehreren Jahren unter der Halle von Notre-Dame-de-Bonne-Nouvelle gesehen habe, verzog ein seltsames Lächeln die Lippen des Banditenchefs.

      In der Tat war es der Bettler, dessen


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