Unter der Drachenwand von Arno Geiger: Reclam Lektüreschlüssel XL. Sascha Feuchert

Unter der Drachenwand von Arno Geiger: Reclam Lektüreschlüssel XL - Sascha Feuchert


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Schnitt machen, ein sauberer Schnitt ist etwas, bei dem es kein Zurück gibt.« (S. 365) Der Onkel erfasst die Situation und will Veit überreden, wieder nach Hause zu gehen: »›Es ist schon genug Unheil angerichtet‹, sagte er. Und dieser Satz ließ alle Schäbigkeiten des Onkels aufleben, und ich hatte kein Mitleid mit ihm, wie er nie mit irgendwem Mitleid gehabt hatte. Und das Pervitin war bestimmt auch nicht ganz schuldlos, dass ich abdrückte.« (S. 365 f.) Der Schuss ist Veit tötet den Onkel …tödlich, der Onkel windet sich nur kurz und stirbt. Zusammen mit dem Brasilianer versteckt Veit die Leiche auf der anderen Straßenseite. Während der … und befreit Perttes Brasilianer zu einem neuen Versteck aufbricht, macht sich Veit auf den Weg nach Hause, weint wiederholt (S. 368) und verbringt eine unruhige Nacht. Als er am nächsten Morgen Margot begegnet, die bereits vom Tod des Onkels weiß, glaubt er »zu sehen, dass sie etwas ahnte, aber sie fragte nicht weiter nach, und ich gab keine weitere Auskunft, und es wurde nicht mehr darüber gesprochen« (S. 369).

      Es sind vom Eichbaumeck: Erneut wechselt der Roman zur Perspektive der Mutter Margots, die ausführlich in Briefen von den Entwicklungen in Darmstadt berichtet. Zwar hat sie mittlerweile eine ganze Reihe von Briefen aus Mondsee erhalten, doch sind zumindest anfangs ihre Informationen noch veraltet (S. 371). Das Leben in der hessischen Stadt ist weiterhin vor allem von Tod, Zerstörung und Mangel gekennzeichnet, es spielen sich Tragödien in Darmstadt Tragödien ab, innerhalb und außerhalb der eigenen Familie (S. 373).

      Für Margots Mutter ist vor allem das Alleinsein nur schwer zu ertragen, gerade auch kurz vor Weihnachten (S. 372). Immer wieder erhält sie zwar Besuch von ihrer Tochter Bettine und ihrem Ehemann, aber die Visiten sind nur kurz und oft auch wenig erquicklich. Sie hegt die Hoffnung, dass ihr Mann durch die Kriegserlebnisse »die Welt jetzt mit anderen Augen ansieht« (S. 375). Allerdings ist bei ihrem Gatten nur selten etwas von Demut zu spüren, wenn er auf Urlaub zu Hause ist, er macht ihr hauptsächlich Vorwürfe (S. 378).

      Auf Margots Geständnis, dass sie ihren Ehemann nicht liebe, reagiert die Mutter zunächst mit einem Rat, den Margot, »wie [sie sie] kenne, nicht befolgen« wird: »Lass dich mit niemandem ein.« (S. 380) Aber sie hat auch Respekt für Margots Ehrlichkeit.

      Die Sache ging sehr rasch: Das Kapitel versammelt mehrere Briefe, die Kurt Ritler an seinen besten Freund Ferdl schickt – er ist ihm nun zum engsten Vertrauten geworden. Die ersten Briefzeilen offenbaren auch, dass Kurt noch nichts von Nannis Tod weiß und weiterhin auf einen guten Ausgang hofft (S. 385). Doch dann wird zu Gewissheit, was auch Kurt seit Längerem ahnt: Nanni ist tot. Von der Nachricht selbst ist er »nicht wirklich überrascht. Die Überraschung liegt eher in der Wucht der Gefühle.« (S. 388)

      Das alles muss Kurt verkraften, während sich auch sein Leben massiv verändert: Er wird zum Militär nach Hainburg (S. 384) eingezogen und muss zunächst in der Kaserne massiven Drill über sich ergehen lassen (S. 387). Zu den Hauptaufgaben während der Ausbildung gehört, dass Kurts Einheit »auf einem Hügel ein Lager für Arbeitsverpflichtete, die demnächst von Ungarn zum Schanzen kommen« (S. 389), errichtet. Auch das Leben in der Kaserne ist für die jungen Männer alles andere als leicht, schnell schon kommt es zu Wutausbrüchen (S. 391) oder der großzügig an sie ausgegebene Schnaps führt zu allerlei »Weltschmerz« (S. 392). Kurt berichtet auch beiläufig von einer Begegnung, die ihn wieder in den Besitz seiner Briefe an Nanni bringt: Ein Soldat, der »aus Mondsee gekommen« (S. 393) und in dem unschwer Veit Kolbe zu erkennen ist, habe ihm diese übergeben.

      Aus der Übung und dem Drill in der Kaserne wird bald auch blutiger Ernst: Kurts Einheit wird nach Schlesien verlegt (S. 394), wo sie zunächst mit »Nichtstun, Bunkerbau, Essen und Schlafen« (S. 395) beschäftigt ist, doch dann immer näher Kurt im entsetzlichen Krieg an die Front verlegt wird. »Wir liegen in dem Dorf, in dem sich der Hauptverbandplatz befindet. Zu Fuß, auf Karren und Autos kommen die Verwundeten an. Das geht Tag und Nacht. Ein Bild des Grauens. Diese Bilder werde ich nie vergessen.« (S. 398)

      Deutsche Einheiten auf dem Rückzug: Das Kapitel gibt Oskar Meyers Tagebuch wieder, das er offenbar anstelle oder neben der Briefkommunikation mit seiner Cousine Jeannette führt (S. 412). Er berichtet, wie die Lage in Budapest immer entsetzlicher wird (S. 399 f.): Juden werden auf offener Straße zusammen- und totgeschlagen, erschossen – und Oskar beobachtet, dass die Misshandlungen umso wahrscheinlicher und brutaler sind, je mehr Publikum herumsteht (S. 406). Die Täter beobachtet Oskar genau: »Ich glaube, einem Mörder gehört die Gegenwart wie sonst niemandem, ich glaube, deshalb wird es immer Mörder geben.« (S. 407)

      Oskar macht sich massive Vorwürfe, Wally und Georg nicht genug beschützt zu haben, auch weil er einmalige Gelegenheiten zur Flucht ausgelassen hat (S. 401). Das Halstuch, das er einst Wally in Budapest kaufte, ist nun das einzig verbliebene Erinnerungsstück, das für Oskar zum Symbol wird und das er immer wieder erwähnt (S. 411 f., 417 f.). Ein Zimmergenosse zerstört Oskars letzte Hoffnungen auf eine Rückkehr von Wally und Georg brutal: »[D]ie beiden seien im Gas, im Ofen, jedenfalls überall sonst, nur nicht am Leben.« (S. 404) Obgleich viele andere ihm abraten, entschließt sich der verzweifelte Oskar, der nun den Namen Andor Bakos angenommen hat (S. 408, 418), sich freiwillig zu einem Oskar als Zwangsarbeiter Arbeitstransport zu melden. Zunächst mit dem Viehwaggon und dann auf einem brutalen Fußmarsch, dem viele Menschen zum Opfer fallen, werden die Freiwilligen nach Westen getrieben. In der Nacht vor der Ankunft in der Nähe von Hainburg (S. 417), wo die Männer zum Schanzen eingesetzt werden sollen, hat Oskar noch einen Traum, in dem ihm Wally erscheint. Wieder entschuldigt sich Oskar bei ihr für sein Versagen, nicht an ihrer Seite gewesen zu sein, als sie verhaftet wurde. Doch Wally »glitt ein Lächeln über [das] Gesicht, begleitet von einem Nicken, und es war, als hätte sie [ihm] die Erlaubnis gegeben, [sich] nicht mehr schuldig zu fühlen« (S. 417).

      So tauche ich wieder in den Winter ein: Für Veit beginnt nach dem Mord an dem Onkel eine neue Neue Zeitrechnung Zeitrechnung: »[I]ch fühlte mich in Mondsee nicht mehr wohl, ich hatte das Gefühl, das Blut des Onkels riechen zu können, wann immer ich mich umdrehte.« (S. 420) Wenngleich der Mord eine Zäsur ist, so scheint Veit die prinzipielle Notwendigkeit der Tat dennoch immer klarer zu sein (S. 423). Die Behörden tappen bei der Aufklärung im Dunklen, für sie deutet alles auf den Brasilianer als Täter hin (S. 420 f.).

      Veit stellt fest, wie sehr sich sein eigenes Leben verändert hat. Die Grundausbildung scheint ihm jedenfalls »hundert oder hundertzwanzig Jahre[ ]« (S. 425) zurückzuliegen, genauso wie ein positives und ungetrübtes Verhältnis zu den Eltern (S. 426). Die erneute Begegnung mit diesen steht bevor, weil Veit zurück nach Wien muss, wo ihn »die Gesundschreibung« (S. 421) erwartet. Margot übergibt ihm für die Reise das Geld, das sie durch den Verkauf von Tomaten verdient hatten und legt ihm nahe, es zur Bestechung des Arztes einzusetzen (S. 423 f.). Für Veit ist nicht nur durch diese Geste klar, wie ernsthaft ihre Beziehung mittlerweile ist (S. 424 f.).

      Für seinen Wien-Aufenthalt hat sich Veit noch etwas vorgenommen: Als er seine Fahrerlaubnis auf dem Gendarmerie-Posten abholt, behauptet er, der Onkel habe ihn noch vor seinem Tod darum gebeten, Kurt Ritler seine Briefe zurückzugeben (S. 422).

      Der Westbahnhof war dick verqualmt: Veit trifft in Wien ein und macht gleich auf mehreren Ebenen Fremdheitserfahrungen: Zum einen erscheint er sich selbst fremd (S. 427), doch die größte Entfremdung stellt der junge Soldat zwischen sich und seinen Eltern fest (S. 430). Es dauert auch nicht lange, bis es zum Konflikt mit dem Vater kommt: »Er fing dann wieder von der Zukunft an, für die wir die vielen Opfer auf uns nähmen« (S. 436). Der Streit eskaliert, als Veit seinem Vater bescheidet: »Du kannst mich einmal.« (S. 436) Für Veit ist der Endgültiger Bruch finale Streit, der zur Folge hat, dass er aus der Familie »flog« (S. 436), v. a. in der Erziehung des Vaters begründet. Nie habe der gelobt, immer zu mehr angestachelt: »Mit Wörtern wie Standhaftigkeit und Konsequenz hatte mir Papa meine Kindheit verdorben. Und die Jugend und das junge Erwachsenenalter hatten mir andere verdorben, aber mit denselben Wörtern.« (S. 437)

      Veits Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit umfasst auch die Erinnerung an seine verstorbene Schwester Hilde. Als er ihr Grab auf dem teilweise durch Bomben zerstörten Meidlinger Friedhof besucht, erinnert er sich an Hildes Sterbetag, den er »bis heute als verstörend« (S. 432) empfindet. Besonders, dass er nicht bei ihr bleiben konnte in der Stunde


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