Mami Staffel 10 – Familienroman. Lisa Simon
Unfall zu erklären war.
Aber die Tage vergingen und er sah nur Qual, Trotz und Ablehnung in Kathrins Augen. Oft waren sie rot und verschwollen, als hätte sie heimlich geweint. Es gelang ihm nicht, die Mauer zu durchbrechen, die sie um sich errichtet hatte.
Morgens um fünf Uhr riß Schwester Hilde die Patientin aus dem Schlaf. Sie verteilte die Waschschüsseln und Fieberthermometer und polterte gutgelaunt mit dem Wäschekarren.
Kathrin empfand Schwester Hildes lautstarke Anwesenheit als sehr störend. Vor allem störte es sie in ihrem tiefen Selbstmitleid, in das sie sich wieder hineingeflüchtet hatte.
»Auf, auf, junge Dame!« rief Schwester Hilde und stellte einen Rollstuhl neben Kathrins Bett. »So krank sind Sie nun nicht mehr, daß Sie sich wie eine alte Dame waschen lassen müssen. Ich rolle Sie jetzt ins Bad zur Morgentoilette.«
»Ich kann nicht aufstehen«, jammerte Kathrin und warf den Kopf zur Seite.
»Sie können sehr wohl aufstehen«, widersprach Schwester Hilde. »Sie wollen bloß nicht. Aber das haben wir gleich.« Sie zog Kathrin einfach die Bettdecke herunter. »Hopp, hopp, rein in den Stuhl. Sie sind jung und kräftig und haben nur ein kaputtes Bein. In ein paar Wochen ist alles verheilt. Es gibt Schlimmeres.«
Seufzend stemmte Kathrin sich hoch und hangelte sich hinüber zum Rollstuhl. Sie war wütend auf Schwester Hilde, die sie so forsch behandelte. Sie wollte Mitleid erregen, getröstet werden, sie wollte sich ihrem Weltschmerz ergeben. Statt dessen sollte sie sich selbst waschen, im Rollstuhl durch die Gänge fahren und tägliche Muskelübungen zur Kräftigung des Beines machen. Sie wollte aber endlich ihre Ruhe haben, nichts als Ruhe!
Mit verbissenem Gesicht saß Kathrin vor dem Waschbecken und begann mit ihrer Morgentoilette, während Schwester Hilde ihr Bett aufschüttelte.
»Sie können froh sein, daß Sie unserem Dr. Kilian unter die Hände gekommen sind. Er ist wirklich spitze! Er führt sehr komplizierte Operationen durch, sogar fast aussichtslose Fälle. Von den Patienten wird er verehrt, von den Ärzten bewundert. Doch er ist bescheiden geblieben, obwohl er ein schweres Los zu tragen hat«, plauderte Hilde, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Als vor drei Jahren seine Frau starb, brach für ihn eine Welt zusammen. Er stand mit drei kleinen Kindern allein da. Aber nicht, daß Sie glauben, er hätte nun den Kopf in den Sand gesteckt. Mit bewundernswerter Energie zieht er seine Kinder groß und arbeitet bis zum Umfallen im Krankenhaus. Unser Doktor ist wirklich einmalig.«
»Und er hat sich nicht wieder eine Frau gesucht?« fragte Kathrin vorsichtig.
»Nein, er lebt nur noch für seine Kinder und seine Patienten.«
›Da weiß ich aber etwas anderes‹, widersprach Kathrin im stillen.
»Dieser Mann hat einen Orden verdient. Aber so bescheiden, wie er ist, würde er ihn sicher nicht annehmen«, erzählte Schwester Hilde weiter. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften. »Fertig! Sie können wieder in ihr Bett, wenn Sie wollen.«
»Allein?« fragte Kathrin entgeistert.
»Natürlich, oder soll ich Sie auf Händen tragen?« Sie lachte laut auf. »Heute nachmittag bekommen Sie noch jemanden aufs Zimmer, damit Sie nicht so allein sind.«
Auch das noch! Kathrins Gesicht verzog sich wieder. Was sie jetzt am allerwenigsten brauchte, war irgendeine zimperliche alte Dame, die ihr stundenlang ihre Krankengeschichte erzählte.
Schwester Hilde schob den Wäschewagen aus dem Zimmer und schloß die Tür. Kathrin war wieder allein. Am liebsten hätte sie laut losgeheult. Sie wollte sich über Schwester Hilde beschweren, weil sie so furchtbar unsensibel war. Ein richtiger Trampel! Doch bei wem sollte sie sich beschweren? Etwa bei Peter?
Seufzend und stöhnend hievte sich Kathrin wieder ins Bett und zog die Decke bis zur Nasenspitze hinauf. So blieb sie liegen, allein mit ihren Gedanken.
Die Ärzte und Schwestern und auch die Patienten schienen also große Stücke von Peter zu halten. Er war ein guter Arzt. Sollten Sie doch! Sie sind sicher nicht so von ihm enttäuscht worden wie Kathrin. Im Privatleben jedenfalls schien es ihm nichts auszumachen, mit den Gefühlen anderer zu spielen und falsche Hoffnungen zu nähren. So dachte zumindest Kathrin, und sie war sich sicher, daß es so war.
*
Am Nachmittag wurde ein zweites Bett in Kathrins Zimmer geschoben. Rundherum wurden verschiedene Geräte aufgestellt, an einem Gestell hingen zwei Infusionsflaschen. Zu ihrem Erstaunen gewahrte Kathrin im Nachbarbett ein etwa zwölfjähriges Mädchen. Sein Gesicht war schmal und blaß, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Ihre Beine und ein Arm waren dick verbunden und am Bettgestell festgebunden.
»So, Bettina, nun hast du alles überstanden, jetzt brauchst du bloß noch gesund zu werden. Und hier nebenan ist eine junge Frau, mit der du dich ein bißchen unterhalten kannst. Sie ist sehr nett.«
Die Schwester zog noch einmal die Bettdecke des Mädchens glatt und hängte die Klingel in die Reichweite ihres gesunden Armes. Dann verließ sie wieder das Zimmer.
Bettina wandte den Kopf zu Kathrin und versuchte ein schwaches Lächeln. »Hallo«, sagte sie leise.
Kathrin kroch ein wenig unter ihrer Decke hervor. »Hallo, Bettina«, antwortete sie. »Ich heiße Kathrin.«
»Hattest du auch einen Unfall?« wollte Bettina wissen.
Kathrin nickte. »Ja, einen schweren. Und da verlangt die Schwester, daß ich schon aufstehe.«
»Da sind wir ja Leidensgefährten. Ich wäre allerdings froh, wenn ich schon aufstehen könnte. Das wird wohl noch eine Weile dauern.«
»Wie ist das denn passiert?« wollte Kathrin wissen.
Bettina starrte zur Decke. »Ich lief auf der Straße und habe wohl geträumt. Und da war auf einmal die Straßenbahn…«
»Um Gottes willen!« Kathrin war entsetzt.
Bettina lächelte. »Ich hatte einen Schutzengel, hat Dr. Kilian gesagt. Und er ist auch ein Engel. Er hat mich sieben Stunden operiert, um alles wieder zusammenzuflicken. Stell dir vor, Kathrin, so lange hat das gedauert. Aber er sagte, ich werde wieder gesund und tanzen können.«
»Tanzen?«
»Ja, ich tanze für mein Leben gern. Ich möchte so gern Tänzerin werden.«
Langsam ließ sich Kathrin wieder auf ihr Kissen sinken. Tatsächlich, es gab Schlimmeres als ihr gebrochenes Bein und ihr Seelenkummer. Was wäre, wenn sich Bettinas Lebenstraum nicht erfüllen würde wegen dieses schrecklichen Unfalls? War es nicht eine wunderbare Lebensaufgabe, solchen Menschen zu helfen?
Kathrin wurde jäh in ihren Gedanken unterbrochen, als sich die Tür öffnete und Dr. Kilian mit einem Ehepaar hereintrat. Es waren Bettinas Eltern. Peter beugte sich über Bettinas Bett.
»Hallo, kleine Ballerina, jetzt bist du über den Berg. Wie fühlst du dich?«
»Ein bißchen schwach, aber es geht mir gut.«
»Das freut mich. Du bist ein tapferes Mädchen. Ich werde dich jeden Tag besuchen, und du wirst jeden Tag einen kleinen Fortschritt machen.«
Bettinas Mutter ergriff Peters Hand. Sie weinte. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, daß Sie unser kleines Mädchen gerettet haben«, schluchzte sie. »Wir haben doch nur Bettina! Sie ist unser ganzer Stolz. Ohne sie hätte unser Leben auch keinen Sinn mehr gehabt.« Wieder und wieder strich sie über Bettinas Kopf.
Peter legte der Frau den Arm um die Schultern. »Sie hatte sehr großes Glück, und ich habe getan, was in meiner Macht stand. Denken Sie nicht mehr an das, was geschehen ist. Schauen Sie nach vorn. Bettina braucht Ihre Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen. Weniger körperlich als seelisch. Auch die beste Therapie im Krankenhaus kann den Halt der Familie nicht ersetzen.«
Die Frau nickte tapfer und wischte sich mit dem Taschentuch die Augen. Der Vater stand mit bleichem Gesicht daneben und blickte sorgenvoll auf seine Tochter. Dann lächelte er. »Danke, Doktor. Sie haben auch uns wieder