Geschichte Österreichs. Walter Pohl L.
1938 war der ehemalige Staat Österreich in sieben Reichsgaue gegliedert. Statt »Österreich« bürgerte sich in der NS-Zeit zunächst der Begriff »Ostmark« ein. 1942 wurde jedoch verfügt, die Sammelbezeichnung »Reichsgaue der Ostmark« zu vermeiden und stattdessen die zusammenfassende Bezeichnung »Alpen- und Donau-Reichsgaue« zu verwenden.
1945, nach der militärischen Niederlage des Großdeutschen Reiches, kehrte die neu konstituierte Republik Österreich zum staats- und verfassungsrechtlichen Zustand des Jahres 1929 zurück (durch die Verfassungsnovelle des Jahres 1929 war die Position des Bundespräsidenten innerhalb des Institutionengefüges der Republik Österreich gestärkt worden). Die größte Änderung der österreichischen Bundesverfassung nach 1945 brachte der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union am 1. Jänner 1995. Seither besitzt Österreich, so der österreichische Verfassungsrechtler Manfried Welan, eine Art »Doppelverfassung«, in der das Recht des »Quasi-Bundesstaates« EU im Konfliktfall eine Änderung des österreichischen Verfassungsrechts erzwingen kann. Ob der weitere Integrationsprozess der EU langfristig Auswirkungen auf den Österreichbegriff haben wird, lässt sich noch nicht absehen.
Zur Frage des räumlichen Umfangs der österreichischen Geschichte
Wer sich mit der Geschichte Österreichs befasst, hat es mit zwei unterschiedlichen historiographischen Traditionen zu tun, und zwar (1.) mit der Landesgeschichtsschreibung, die infolge des relativ stabilen räumlichen Rahmens der meisten österreichischen (Bundes-)Länder seit dem Hoch- und Spätmittelalter – abgesehen von den erst nach 1918 geschaffenen Bundesländern Wien und Burgenland – »eine Art ruhenden Pol der Geschichtsschreibung in Österreich darstellt«, und (2.) mit der »gemeinsamen« österreichischen Geschichte. Im Unterschied zur Geschichte der einzelnen Länder ist die gemeinsame österreichische Geschichte ein »im räumlichen Umfang wie in zeitlicher Kontinuität instabiler Traditionsstrang«. Ausgehend von diesen Überlegungen hat Gerald Stourzh 1991 am Beispiel von zwischen 1853 und 1988 publizierten »Reflexionen zur österreichischen Geschichte« die »Problematik des Umfanges der österreichischen Geschichte« illustriert.
Der gebürtige Prager Josef Alexander (später: von) Helfert (1820–1910), seit 1848 Unterstaatssekretär im Wiener Unterrichtsministerium, ging 1853, also in der Zeit des Neoabsolutismus, in seinem programmatischen Büchlein Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich davon aus, dass »die alte Gränze, welche zwischen den zwei Hälften der Monarchie gelaufen war«, nämlich zwischen den »deutsch-slawischen« Ländern und dem Königreich Ungarn, endlich verwischt sei. Es existiere nunmehr ein – einheitlich von Wien aus regiertes – Groß-Österreich. Während die Heimatkunde der Kenntnis des jeweiligen Kronlandes und seiner Geschichte diene, diene die Vaterlandskunde bzw. die vaterländische Geschichte der Kenntnis des »Gesammtvaterlandes von Groß-Österreich«. Helferts Vorstellung von Nationalgeschichte orientierte sich am Begriff der Staatsnation, nicht an jenem der Sprachnation: »Österreichische Nationalgeschichte ist uns die Geschichte des österreichischen Gesammtstaates und Gesammtvolkes […].« Nicht zufällig wurden in der Zeit des Neoabsolutismus, im Zuge der Universitätsreform des Unterrichtsministers Leo Graf Thun-Hohenstein, an den »österreichischen« Universitäten eigene Lehrstühle für Österreichische Geschichte – ganz im Sinne Helferts! – eingerichtet (Prag 1850, Wien und Innsbruck 1851). Hauptadressaten des neuen Faches waren Lehramtskandidaten und Juristen, denen während des Studiums für ihre künftige Berufslaufbahn ein solides »vaterländisches historisches Bewusstsein« vermittelt werden sollte. Wie Brigitte Mazohl und Thomas Wallnig unlängst gezeigt haben, waren bereits die zahlreichen seit ungefähr 1800 erscheinenden Kompendien der österreichischen Geschichte, die allesamt nicht von professionellen Historikern verfasst wurden, der aus den Grundelementen »Kaiserhaus«, »Vaterland« und »Staat« amalgamierten »Großen Erzählung« (im Sinne Jean-François Lyotards ) von der »österreichischen Geschichte« verpflichtet gewesen, der »Erzählung, wie aus einer Markgrafschaft eine Großmacht wurde«. Die genannten Grundelemente des Diskurses »österreichische Geschichte« ihrerseits waren bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts fertig ausgebildet und wurden um 1800 lediglich »verdichtet« und »in eine fertige Form gegossen«. Die »Erfindung einer österreichischen Nationalgeschichte« (Georg Christoph Berger Waldenegg ) nach 1848 war also keine Creatio ex nihilo. Es ging den Vordenkern des Neoabsolutismus um die »Schaffung einer österreichischen Staatsnation«, allerdings nicht unbedingt einer strikt »übernationalen« österreichischen Staatsnation, sondern »einer deutsch geprägten österreichischen Staatsnation« (Berger Waldenegg), eine Idee, die begreiflicherweise bei den Vorkämpfern der (Interessen der) nicht-deutschen (Sprach-)Nationen der Monarchie wenig Anklang fand.
Alfons Huber (1834–1898), seit 1870 Professor für Österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck und ab 1887 am Institut für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien, das 1854 auf Anregung und im Geiste Helferts gegründet worden war, eröffnete 1885 die programmatische Einleitung zum ersten Band seiner Geschichte Österreichs mit den folgenden Sätzen: »Eine Geschichte Österreichs ist unzweifelhaft ein schwierigeres Werk als die Geschichte der anderen Staaten. Die meisten Reiche, welche in der Geschichte eine hervorragende Rolle gespielt haben, tragen den Charakter von natürlichen Gebilden an sich, sind dadurch entstanden, daß eine kräftige Nation im Kampfe um das Dasein ihre Existenz behauptet, sich eine gesicherte Stellung errungen und kleinere Völkerschaften oder Teile von solchen sich unterworfen und mehr oder weniger vollständig sich assimiliert hat. Österreich dagegen ist ein künstlicher Bau, indem das im südöstlichen Deutschland regierende Haus Habsburg auch in benachbarten nichtdeutschen Reichen […] sich Anerkennung verschaffte und so mehrere Staaten mit ganz verschiedener Bevölkerung und vielfach verschiedenen politischen und sozialen Zuständen zunächst durch Personalunion in seinen Händen vereinigte. Österreich ist […] eine Verbindung von drei ursprünglich getrennten Gebäuden, aus denen erst eine Reihe von Baumeistern ein einheitliches architektonisches Werk zu schaffen bemüht war.« Im Unterschied zu Huber hatte Franz (von) Krones (1835–1902) in seinem fünfbändigen, in den 1870er Jahren erschienenen Handbuch der Geschichte Österreichs Österreich nicht als »Mechanismus«, sondern als »Organismus« aufgefasst, dessen »Wachstum nicht bloß durch politische Zufälligkeiten, sondern auch durch geographische Gesetze« bedingt gewesen sei.
Der Innsbrucker Jurist und Historiker Hans von Voltelini (1862–1938) beantwortete um 1900 – in Reaktion auf die 1893 erfolgte Einführung des Pflichtfaches »Österreichische Reichsgeschichte (Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts)« für die rechtshistorische Staatsprüfung im Rahmen des rechts- und staatswissenschaftlichen Studiums an den österreichischen (d. h. cisleithanischen) Universitäten und ausgehend vom »Ausgleich« des Jahres 1867 – die Frage, »ob die österreichische Reichsgeschichte eine Geschichte der Gesamtmonarchie und der beiden Staaten, aus denen dieselbe besteht, sein soll, […] oder ob sie neben der Gesamtmonarchie nur die staatsrechtliche Entwicklung der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder vertreten soll«, im Sinne der engeren, das Königreich Ungarn ausklammernden Auffassung: »Ungarn ist nach den Ausgleichsgesetzen von 1867 ein in seinen inneren Angelegenheiten selbständiger und unabhängiger Staat. Die Geschichte seiner Verfassung und Verwaltung kann daher nur insoweit für die österreichische Reichsgeschichte von Belang sein, als die mit Österreich gemeinsamen Institutionen in Betracht kommen, und als die ungarischen Verhältnisse auf die Entwicklung des österreichischen Staatsrechtes zurückgewirkt haben.« Anders als die englische, die französische oder die deutsche Geschichte werde die österreichische Geschichte »immer eine Staatsgeschichte bleiben müssen, denn die Nationen, welche den Kaiserstaat bewohnen, gehören verschiedenen nationalen Kulturkreisen an«.
Der in Wien lehrende Mediävist und Österreichhistoriker Oswald Redlich (1858–1944) war nach 1918 – ähnlich wie, aber mit anderen Akzenten als Heinrich (Ritter von) Srbik (1878–1951), der bekannteste Vertreter der »gesamtdeutschen« Geschichtsauffassung – bestrebt, bei seinen Kollegen und Lesern in Österreich und Deutschland Verständnis und Wertschätzung für das komplizierte Staatswesen und die Kultur »Altösterreichs« zu erwecken. Er war ohne Zweifel derselben Meinung wie sein Kollege und Freund Aloys Schulte, der ihm 1921 aus Anlass des Erscheinens seines Buches Österreichs Großmachtbildung in der Zeit Kaiser Leopolds I. in einem Brief schrieb: »Wenn