Geschichte Österreichs. Walter Pohl L.
unterscheidet als für die (neuere) österreichische Geschichte relevante Räume – neben Europa – (1.) staatlich-territoriale Räume, (2.) europäische Mesoregionen (Zentraleuropa und Ostmitteleuropa) und (3.) das habsburgische Imperium, d. h. die die Herrschaftsräume sowohl der spanischen als auch der österreichischen (oder deutschen) Linie des Hauses Habsburg umfassende »dynastische Agglomeration«. Für unsere Zwecke relevant und praktikabel sind in erster Linie die sich im Zeitverlauf ändernden staatlich-territorialen Räume, nämlich die habsburgischen Erblande des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die Habsburgermonarchie (1526–1918) und das Heilige Römische Reich (962–1806) bzw. der Deutsche Bund (1815–1866), die Erste Republik (1918–1933/38), das nationalsozialistische Deutsche Reich (1938–1945) und die Zweite Republik (seit 1945). Der Raumpluralismus der österreichischen Geschichte ist ein Kernproblem, dem man sich als Historiker Österreichs stellen muss: »Eine als multiperspektivische Raumgeschichte verstandene österreichische Geschichte konstituiert sich nicht aus einem Raum, dessen Entwicklung den maßgeblichen Gedanken der Sinnkonstruktion darstellt, sondern aus einem Bündel von Räumen mit jeweils einer eigenen Geschichte, spezifischen Deutungsvoraussetzungen und Quellenverhältnissen.«
Karl Vocelka hat seiner erstmals im Jahr 2000 erschienenen Überblicksdarstellung der Geschichte Österreichs plausible Überlegungen zur Frage des räumlichen Umfangs der österreichischen Geschichte vorangestellt, die eine pragmatische Lösung der Widersprüche zwischen zwei gegensätzlichen Auffassungen des Begriffs »österreichische Geschichte«, nämlich als Geschichte des heutigen Staatsgebietes auf der einen und als Geschichte der Habsburgermonarchie auf der anderen Seite, nahelegen. »Eine allseits befriedigende Lösung wird sich nicht finden lassen, doch scheint sich die Entwicklung der letzten Zeit auf ein System konzentrischer Kreise hinzubewegen – oder, um einen Terminus aus der Fotografie zu verwenden: zu ›zoomen‹. Das heißt also, dass für die Neuzeit der deutschsprachige Teil der Donaumonarchie zwar im Mittelpunkt des Interesses der österreichischen HistorikerInnen steht, dass aber die Entwicklungen der einst mit dem Haus Habsburg verbundenen Länder, insbesondere sofern sie das wirtschaftliche, politische und kulturelle Klima beeinflussen, entsprechend berücksichtigt werden.« Ganz ähnlich ist Alois Niederstätter in der jüngsten, 2007 vorgelegten einbändigen Darstellung der Geschichte Österreichs vorgegangen. Im Vorwort hat er dies damit begründet, dass »für einen historischen Längsschnitt, der von der Eingliederung des Ostalpenraums in das römische Reich bis zur Gegenwart reichen soll«, nur »der Kompromiss« in Frage komme, »das Schwergewicht auf das heutige Staatsgebiet zu legen, aber auch weiter auszugreifen, wo es nötig erscheint«.
Das für die österreichische Geschichte eine tiefe Zäsur darstellende Jahr 1918, die militärische Niederlage Österreich-Ungarns und die Auflösung dieses Staatsgebildes, bedeuten den meisten heutigen Österreichern kaum mehr etwas ihre eigene, historisch fundierte (nationale) Identität Berührendes, werden nicht als »unsere« Niederlage oder der Zerfall »unseres« ehemaligen Staates empfunden. Das Gegenteil gilt für die Bedeutung der Jahre 1526 (Schlacht bei Mohács) und 1920 (Friedensvertrag von Trianon) im historischen Gedächtnis der heutigen Ungarn oder der Jahre 1620/21 (Schlacht am Weißen Berg, »Prager Blutgericht«) und 1918 (Gründung der Tschechoslowakei) im nationalen Geschichtsbild der heutigen Tschechen. Die moderne österreichische Nation ist eine sehr junge Nation. Ihre wichtigsten historischen »Erinnerungsorte« sind die Jahre 1945 (Kriegsende, Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, Wiedererrichtung der Republik Österreich) und 1955 (Staatsvertrag, Ende der Besatzungszeit, Erklärung der Immerwährenden Neutralität). Die Aufgabe, eine moderne »österreichische Geschichte« oder »Geschichte Österreichs« zu schreiben, wird dadurch nicht einfacher. Eine »Geschichte Österreichs« seit dem Frühmittelalter kann jedenfalls keine »österreichische Nationalgeschichte« sein. Während die ersten Jahre nach 1918 von einer »Entösterreicherung« des Bewusstseins der Deutsch-Österreicher geprägt gewesen waren und der »Ständestaat« in den 1930er Jahren die Parole von Österreich als »zweitem deutschem Staat« ausgegeben hatte, kam es zu einer »Austrifizierung« Österreichs im engeren Sinn – Ernst Hanisch hat von der »Reaustrifizierung«, der eigentlichen österreichischen Nationsbildung gesprochen – erst nach 1945, nach dem Bruch mit Deutschland und der deutschen Geschichte. Noch 1956 waren nur 49 % der befragten Österreicher der Ansicht, die Österreicher seien eine eigene Nation, 1964 sogar nur 47 %; 1970 – nach der »Borodajkewycz-Affäre« 1965 und der Einführung eines österreichischen Nationalfeiertags im selben Jahr – waren es dann bereits zwei Drittel, und seit den späten 1980er Jahren waren stets zwischen 74 und 80 % der Befragten dieser Meinung.
Jede »Geschichte Österreichs« ist letzten Endes ein Konstrukt, ein Konstrukt freilich, das die Österreichhistoriker nicht nur den historisch wissbegierigen Österreicherinnen und Österreichern, sondern allen an der Geschichte Europas und Österreichs in Europa Interessierten schuldig sind.
Von der römischen Herrschaft bis zur Karolingerzeit (15 v. Chr. bis 907)1
Von Walter Pohl
Epochenüberblick
Die fast 1000 Jahre von der römischen Besetzung des Ostalpen- und Donauraumes bis zur Ungarnzeit bieten kaum eine einheitliche Erzählperspektive. Zu keiner Zeit unterstand der gesamte Raum des heutigen Österreich einer länger andauernden einheitlichen Herrschaft. In der Römerzeit, von 15 v. Chr. bis 487 n. Chr., ging Roms direkter Machtbereich bis zur Donau, und auch wenn der Raum nördlich davon oft weitgehend kontrolliert wurde, gelang die mehrfach geplante Errichtung einer Provinz nicht. Auch das Karolingerreich beherrschte vom Awarensieg Karls des Großen (796) bis zur bayerischen Niederlage gegen die Ungarn bei Pressburg (907) im wesentlichen den Raum südlich der Donau, während nördlich davon die Mährer trotz mehrfacher Unterwerfung nicht integriert werden konnten. Nie befand sich in der in diesem Abschnitt behandelten Epoche auf dem Gebiet des heutigen Österreich ein überregional bedeutsames Herrschaftszentrum, es wurde meist von außerhalb dominiert. Rom beherrschte weite Teile des Raumes von Italien aus, Hunnen im 5. und Awaren im 6.–8. Jahrhundert aus dem heutigen Ungarn, das bayerische Herzogtum der gleichen Epoche von Regensburg aus, und die Residenzen des karolingischen Frankenreiches lagen zunächst noch weiter westlich, etwa in Aachen.
Eine »Geschichte Österreichs« in dieser Zeit kann daher, nach dem Vorbild der ersten Bände der von Herwig Wolfram herausgegebenen Österreichischen Geschichte, nur von »Grenzen und Räumen« handeln, die in unterschiedlichem Maß von Mächten außerhalb des hier behandelten Gebietes dominiert und beeinflusst wurden. Dabei blieb der Raum Begegnungszone sehr unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen: von Kelten, Römern und Germanen in der Römerzeit; von germanischen Völkern, römischen Provinzialen und Steppenreichen in der Völkerwanderungszeit des 5./6. Jahrhunderts; von Bayern, Romanen, Slawen und Awaren ab der Mitte des 6. Jahrhunderts; gegen 800 kamen dazu noch Franken und andere Bewohner ihres Reiches, während die Awaren verschwanden und ein knappes Jahrhundert später von den Ungarn ersetzt wurden. An der Besiedlung des Raumes hatten diese Völker und Sprachgruppen in sehr unterschiedlichem Maß Anteil. Um 900 bestand die Bevölkerung Ostösterreichs vorwiegend aus Slawen, im Westen aus Bayern (westlich des Arlbergs aus Alemannen), dazu gebietsweise auch Romanen. Das heißt nicht, dass frühere Bevölkerungen (Kelten, Germanen, Awaren) einfach verschwunden waren; sie können Identität und Sprache gewechselt haben, wie es später auch bei den Slawen und Romanen der Fall war, die im Hochmittelalter (mit Ausnahme vor allem der Kärntner Slowenen) zu Deutschen wurden. Über diese ethnischen und sprachlichen Prozesse wissen wir im einzelnen recht wenig; der Wandel der Sprachverhältnisse kann bis zu einem gewissen Grad aus den komplexen Ortsnamenlandschaften erschlossen werden, die (mit dem Sprachwandel nicht immer gleichzeitige) Veränderung der Selbstzuordnung wird nur ausnahmsweise deutlich erkennbar.
Im Untersuchungsgebiet entstanden immer wieder regionale Ordnungen: die römische Provinz Noricum sowie Teile der Nachbarprovinzen Raetien und Pannonien, wo Carnuntum als Legionslager und Zivilstadt einige strategische und kulturelle Bedeutung hatte; die kurzlebigen Reiche der Rugier, Eruler und Langobarden im Ostösterreich des 5./6. Jahrhunderts; das karantanische Fürstentum im 8. Jahrhundert, in dem sich die slawische Bevölkerung eine politische Struktur gab; und schließlich das Erzbistum Salzburg als kirchliches und kulturelles Zentrum des Ostalpenraumes im 9. Jahrhundert.