Geschichte Österreichs. Walter Pohl L.
die Raetia Secunda wohl etwa bis an den Bodensee. Als Vorfeld des Reichszentrums gehörten sie alle zur neugeschaffenen Präfektur Italien als übergeordneter Verwaltungseinheit. Die Legionen wurden entlang des Limes in kleinere Einheiten aufgeteilt. Dazu kam im 4. Jahrhundert noch die offenbar regional ausgehobene Legio I Noricorum. Die Limeskastelle wurden ausgebaut, wovon sich Spuren etwa in Tulln, Traismauer oder Mautern finden. Aber auch im Hinterland wurden nun wichtige Straßenverbindungen und Nachschubstationen durch Kastelle und Garnisonen gesichert, etwa in Veldidena/Wilten und Teriolis auf dem Martinsbühel bei Zirl im Tiroler Inntal.
Relevant für die politischen Rahmenbedingungen in den Provinzen war auch das System der Tetrarchie, die Aufteilung des Reichsgebietes unter vier Kaisern, zwei davon nachgeordnet. Ihre Residenzen im Westen rückten von Rom nun näher an die Grenze, nach Trier und Mailand, aber auch andere Städte wie Aquileia oder Sirmium / Sremska Mitrovica dienten wiederholt als Residenz. Ab 402 residierten die Westkaiser dann in Ravenna. Freilich brachte schon der Herrschaftsverzicht Diocletians Probleme um Machtverteilung und Nachfolgeregelungen, so dass unter seiner Leitung 308 nach Carnuntum eine Kaiserkonferenz einberufen wurde. Zu diesem Anlass wurde dort ein Mithras-Heiligtum wiederhergestellt und dieser vielerorts verehrte orientalische Gott in einer Inschrift der Kaiser als »Beschützer des Reiches« gepriesen. Die Einigung hatte ebenso wenig Bestand wie die Rolle des Mithras in der Reichsideologie. In langwierigen Kämpfen setzte sich schließlich Constantin I. durch. Auch er war ein Reformer, der durch Verlegung seiner Residenz nach Konstantinopel, durch die Einführung der Goldwährung (solidus), vor allem aber durch Tolerierung und Förderung des Christentums nachhaltig wirkte. Die Lage an der Donau war in dieser Zeit relativ ruhig.
Als Constantin 337 starb, folgten ihm einige Jahrzehnte lang jeweils mehrere Mitglieder seiner Familie nach, zunehmend im Konflikt miteinander. Einer von ihnen, am ehesten Constantius II., errichtete jenes Triumphalmonument in Carnuntum, dessen Ruinen heute als »Heidentor« bekannt sind. Der Druck an den Grenzen nahm nun wieder zu. Valentinian I. ließ deshalb den Rhein-Donau-Limes weiter ausbauen. Er verbrachte 374 einige Monate in Carnuntum, das offenbar nach einem Erdbeben schwer beschädigt war. Im folgenden Jahr starb er im pannonischen Brigetio, angeblich weil er sich über die Unverschämtheit quadischer Abgesandter so aufgeregt hatte. Etwa zur gleichen Zeit erschienen am Schwarzen Meer die Hunnen und brachten eine neue Dynamik in die Unternehmungen der Barbaren an Roms Grenzen. Statt der schon lang vertrauten Gegner und Nachbarn – Markomannen, Quaden, Jazygen – sollte man es in Pannonien und Noricum bald mit Goten, Hunnen und vielen anderen zu tun bekommen. In Rätien blieben die Alemannen unruhige Nachbarn, die immer wieder zu kleineren oder größeren Plünderungszügen aufbrachen.
Insgesamt war das 4. Jahrhundert aber in vielen Teilen des heutigen Österreich durchaus eine Epoche der Prosperität, wenn auch an verschiedenen Orten die Verläufe recht unterschiedlich sind. In den Städten wurden, teilweise nach Schäden des 3. Jahrhunderts, in der diocletianisch-constantinischen Zeit repräsentative Bauten errichtet, und viele der ländlichen Villen, vor allem in der Umgebung von Carnuntum (etwa Bruckneudorf, ein großer Komplex mit qualitätvollen Mosaiken), zeugen von Reichtum und gediegener Ausstattung. Auch im Vorfeld des Imperiums, im Weinviertel, finden sich Spuren römischer Zivilisation, etwa auf dem Oberleiser Berg, wo vermutlich ein verbündeter markomannischer Anführer in einem Steinbau mit Fußbodenheizung residierte. Die religiöse Vielfalt ist in den drei römischen Provinzen seit dem 2. Jahrhundert gut bezeugt; neben den Göttern des römischen Pantheons sind orientalische Kulte bezeugt, etwa Iuppiter Dolichenus aus Anatolien (z. B. in Mauer an der Url), Mithras aus Persien, sowie syrische und ägyptische Kulte. Deutliche Spuren des Christentums finden sich erst seit dem späteren 4. Jahrhundert, etwa der Grabstein der Soldatengattin Ursa, chrestiana fidelis, in Ovilava/Wels. Spätere Nachrichten bezeugen die Verehrung des heiligen Florian in Lauriacum/Lorch, eines pensionierten Beamten, der während der diocletianischen Christenverfolgung 303/304 das Martyrium erlitten haben soll. Abgesehen von undeutlichen Spuren sind Reste von Kirchenbauten erst aus dem 5./6. Jahrhundert erhalten, vor allem in Teurnia und auf dem Hemmaberg in Kärnten sowie im Tiroler Inntal. Auch schriftliche Zeugnisse über die Kirchenorganisation finden sich erst im 5. Jahrhundert, nicht zuletzt in der Vita des heiligen Severin.
Der Zerfall der römischen Ordnung
453
Tod des Hunnenkönigs Attila
482
Tod des heiligen Severin
487/488
König Odoaker vernichtet das Rugierreich und siedelt die Provinzialen aus Ufernoricum ab; Ansiedlung der Langobarden im Rugiland
471–526
Theoderich König der Ostgoten (ab 493 in Italien)
510–540
Wacho König der Langobarden
Mitte 6. Jh.
Bayerischer Dux Garibald von den Franken eingesetzt
568
Abzug der Langobarden aus Pannonien nach Italien
Das bei weitem detailreichste Bild vom Leben in Noricum ist nicht aus der Blütezeit des Imperiums erhalten, sondern aus der Endphase der römischen Herrschaft an der norischen Donau in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, nämlich in der bald nach 500 im Exil bei Neapel von Eugippius verfassten Vita Severini, die bei aller hagiographischen Stilisierung des heiligen Severin sehr lebendige Schilderungen enthält. In den anderen schriftlichen Quellen finden sich nur knappe Informationen. Für die Besiedlungsgeschichte des 5. und 6. Jahrhunderts bietet die Archäologie gute Befunde. Wie in anderen Abschnitten des Limes lassen sich Aufgabe oder zuweilen eingeschränkte Weiterbenützung vieler Kastelle an der Donau vielerorts archäologisch erschließen. In Kärnten und im raetischen Alpenraum belegen Grabungsergebnisse den Weiterbestand christlicher Gemeinschaften im 6. Jahrhundert. Insgesamt dauerte die Ablösung der spätrömischen Ordnung in Noricum und seinen Nachbargebieten einige Jahrhunderte lang, über das Ende des weströmischen Kaisertums 476 hinaus. Letztlich sind aber im Großteil des heutigen Österreich die spätantike Infrastruktur und Lebensweise fast völlig verschwunden, der Bruch war tiefgreifender als in vielen Gebieten weiter westlich oder südlich.
Über den Zerfall des Imperiums, die Gründe dafür und seine Dynamik wird in der Forschung weiterhin debattiert – ist Rom gefallen, oder handelte es sich eher um eine »Transformation« der römischen Welt? Und welche Rolle spielten die »Barbaren« dabei? (Der eigentlich abwertende Begriff »Barbaren« wird in Ermangelung einer besseren Bezeichnung von der Forschung für Menschen ursprünglich außerrömischer Herkunft gebraucht, ohne ein Werturteil zu intendieren.) Dort, wo wie in Italien, Gallien oder Spanien auf dem Gebiet des Imperiums einigermaßen stabile »barbarische« Königreiche die römische Herrschaft ablösten, hat sich viel von der römisch-christlichen Ordnung erhalten, von der Sprache bis zur Organisation der Landwirtschaft, ein gewisses städtisches und kirchliches Leben und Grundzüge der Verwaltung und Kultur. Das gelang im Ostalpenraum nur im bayerischen Dukat, der auch Teile Oberösterreichs, Salzburgs sowie Tirol umfasste, in sehr eingeschränktem Maß. Östlich davon scheiterten letztlich die Versuche, an die römische Ordnung anzuschließen. Das lag nicht nur an den Angriffen der Barbaren, obwohl sie besonders im Durchgangsraum an der Donau viel Schaden angerichtet haben. Die Reichsregierung setzte immer wieder Truppen, die in Noricum und Pannonien stationiert waren oder hier rekrutiert wurden, anderswo ein, nicht zuletzt in den zahlreichen Thronkämpfen des späten 4. und des 5. Jahrhunderts. Im 5. Jahrhundert bestand die römische Armee bereits überwiegend aus Soldaten barbarischer Herkunft. Aber nicht alle waren in der zivilen Bevölkerung so verhasst wie die Garnison von Asturis in der Vita Severini, wo es als Wunder begrüßt wurde, dass sie sich in ihrer Verwirrung nach einem Erdbeben gegenseitig umbrachten. Bemerkenswert ist auch, wie wenig man am Ende der Antike vom norischen Bergbau hört. Das norische Eisen, das die Prosperität des regnum Noricum begründet hatte, wird nicht mehr genannt, auch archäologisch gibt es kaum Hinweise auf Bergbau seit dem 5. Jahrhundert. Insgesamt scheint es, dass