Geschichte Österreichs. Walter Pohl L.
seiner Familie mehr die Ostgoten einen. Zugleich hatte sich das oströmische Reich unter der Herrschaft Justinian s (reg. 527–565) so weit konsolidiert, dass eine Rückgewinnung verlorener Gebiete im Westen möglich schien. 535 nahm Justinian die Ermordung von Theoderichs Tochter Amalaswintha zum Anlass, Italien anzugreifen. Doch dieser Krieg erwies sich als unerwartet hart und langwierig, nicht zuletzt deshalb, weil in Italien die »Römer« aus dem Osten oft gar nicht als Befreier von der Barbarenherrschaft angesehen wurden, sondern als fremde »Griechen«, deren aus vielerlei Barbaren zusammengesetzte Armeen sich oft wie in Feindesland verhielten. Erst 552–554 brach der kaiserliche Feldherr Narses den gotischen Widerstand. Die römische Rückeroberung hatte letztlich mehr Verwüstungen im ehemaligen Kernland des Imperiums angerichtet als alle Barbarenangriffe zusammen. Dazu kamen noch große Bevölkerungsverluste durch die Pestepidemie der 540er Jahre, die auf fast ganz Europa ausgriff und danach noch mehrmals wiederkam. Nach 554 gelang keine durchgreifende imperiale Restauration mehr. In Norditalien machten sich wiederholt lokale Machthaber selbständig, darunter ein erulischer General der römischen Armee in Trient, dessen Herrschaft mit dem alten Namen der Breonen in Verbindung gebracht wurde.
Auch sonst brachte der Gotenkrieg die Verhältnisse in vielen Randgebieten Italiens in Bewegung. Die Franken drangen nicht nur nach Norditalien, sondern auch in den Alpenraum und bis ins südliche Noricum vor, das sie zeitweise kontrollierten. In diesem Kontext bekam auch der Dukat Bayern überregionale Bedeutung, was sich daran zeigt, dass Dux Garibald bald nach 555 die Witwe des Frankenkönigs Theudebald, die langobardische Königstochter Walderada, heiratete. In Pannonien gerieten die expandierenden Langobarden um 550 in eine Serie von Kriegen mit den Gepiden, die die Kämpfe genützt hatten, um die alte Kaiserstadt Sirmium an der Save zu besetzen. Der Frieden, der unter dem Langobardenkönig Audoin 552 geschlossen wurde, hielt nur bis zur Machtübernahme durch seinen Sohn Alboin. Dieser setzte einen mehrjährigen Konflikt bis zur Vernichtung des Gepidenreiches 567 fort, soll in der Schlacht eigenhändig den Gepidenkönig Kunimund getötet haben und heiratete dann dessen Tochter Rosamunde. Der Kampf drehte sich aber nicht um die Kontrolle des Karpatenbeckens. Schon im Jahr nach dem Gepidensieg, 568, führte Alboin eine große Armee von Langobarden, Gepiden, Sueben, Sarmaten, Bulgaren, pannonischen und norischen Provinzialen nach Italien. Die Liste gibt einen Eindruck von der gemischten Bevölkerung, die bis dahin im Karpatenbecken und seinen Randgebieten gelebt hatte. Alboin soll befohlen haben, die Siedlungen in der alten Heimat niederzubrennen, damit niemand zurückbleiben konnte. Die Maßnahme wurde sicher nicht flächendeckend durchgeführt, betraf aber wohl auch das östliche Österreich. Um in Italien Erfolg zu haben, benötigte Alboin eine möglichst zahlreiche Armee und Bevölkerung. Die Schätzungen gehen weit auseinander, doch können es höchstens 100 000 Menschen gewesen sein, die in jenen Jahren nach Italien zogen, wahrscheinlich um einiges weniger. Zum zweiten Mal nach 488 wurde also die Bevölkerung der Gebiete an der Donau in großem Stil abgesiedelt.
Der Langobardenzug stieß auf wenig Widerstand, allerdings entglitt König Alboin bald die Kontrolle über das Unternehmen. Bald wurde er bei einer Verschwörung seiner Frau Rosamunde ermordet. Die politische Situation in Oberitalien, wo nun Langobarden, Byzantiner und Franken gegeneinander kämpften, blieb einige Jahrzehnte lang sehr instabil. Erst Königin Theodelinde, die Tochter des bayerischen Dux Garibald und der Langobardin Walderada, und ihr zweiter Mann Agilulf konnten um 600 das Langobardenreich konsolidieren. Doch haben die Langobarden in den etwa 200 Jahren ihrer Herrschaft nie die gesamte Halbinsel erobert. Im Nordosten blieben viele Küstengebiete (Teile Istriens, Grado, die sich damals erst allmählich entwickelnde Lagune von Venedig, Ravenna) byzantinisch. Das Patriarchat Aquileia, dem in der Spätantike auch große Teile des heutigen Österreich zugeordnet waren, agierte nun in einem politisch gespaltenen Raum. Anfang des 7. Jahrhunderts spaltete sich auch das Patriarchat selbst, und fortan gab es einen Patriarchen im langobardisch kontrollierten Aquileia (der später an anderen Orten in Friaul residierte) und einen im byzantinischen Grado (später in Venedig). Die verbliebenen Christen im Ostalpenraum konnten sich also aus Italien wenig Rückhalt erwarten; auch das Interesse der Franken an diesem Raum erlosch nach wiederholten Misserfolgen in Italien in den 590er Jahren.
Awaren, Slawen und Bayern
568
Awaren ziehen im Karpatenbecken ein.
Ende 6. Jh.
Ende der spätantiken Ordnung in Binnennoricum; Slawen breiten sich in den Ostalpen aus.
Um 700
Bischof Rupert in Salzburg
742
Sieg der Bayern unter Herzog Odilo (reg. 736/737–748) über die Awaren, Oberherrschaft über die Karantanen
747/749–784
Bischof Virgil von Salzburg
Vor 748
Gründung des Klosters Mondsee, 769 von Innichen, 777 von Kremsmünster, vor 784 von Mattsee
748–788
Bayernherzog Tassilo III.
Im Donauraum führte der Abzug der Langobarden zu einer völligen Neuordnung. Daran war ein erst vor kurzem aus Zentralasien angekommenes Volk führend beteiligt: die Awaren. Selten haben Machtverschiebungen an der chinesischen Nordgrenze so direkte Auswirkungen auf Mitteleuropa gehabt. Bald nach 550 brachen die Türken die Macht eines Steppenreiches, das die Chinesen Rou-ran nannten, die Steppenvölker aber Awaren. Diese Umwälzung führte auch zur Abwanderung einer größeren Gruppe von Reiterkriegern nach Westen, wo sie 558/559 nördlich des Kaukasus erschienen und eine Gesandtschaft an Kaiser Justinian schickten. Wie die Byzantiner von den Türken erfuhren, handelte es sich bei den Flüchtlingen aber nicht um »wirkliche« Awaren, sondern um eine gemischte Gruppe von Oguren, die Varchoniten genannt wurden und sich den immer noch furchteinflößenden Awarennamen nur beigelegt hatten. Wie auch immer, in Europa wurden sie Awaren genannt und besiegten der Reihe nach die kleineren Steppenvölker, die nördlich des Schwarzen Meeres siedelten. Im Konflikt mit den Gepiden schloss der Langobardenkönig Alboin ein Bündnis mit den Awaren und versprach ihnen für ihre Unterstützung das Gepidenland (ein wichtiger Hinweis, dass er schon vor seinem Sieg den Abzug nach Italien plante). 568 zogen die Awaren unter ihrem Herrscher Baian, der den Titel Khagan trug, im Karpatenbecken ein und bauten von hier aus schrittweise ein großes Reich auf, das dem Hunnenreich Attilas nicht nachstand, es aber an Dauer weit übertraf.
Es dauerte einige Zeit, bis die Awaren im Raum an der mittleren Donau ihre Herrschaft konsolidiert hatten. Der Abzug der Langobarden hatte die Bevölkerung des Raumes nicht gänzlich ausgedünnt. Im Gegenteil, das reiche archäologische Material aus den ersten Jahrzehnten awarischer Herrschaft zeigt vor allem in Pannonien (besonders rund um den Plattensee) eine überraschend starke Orientierung nach Westen, während zunächst kaum zentralasiatische Spuren fassbar werden. Erst etwas später finden sich charakteristische Züge von Steppenreitern, darunter metallene Steigbügel, die die Awaren als erste nach Europa brachten. Das Zentrum des Awarenreiches lag wohl zwischen Donau und Theiß; Ostösterreich war ein Randgebiet des Khaganats, das erst allmählich von awarischer Siedlung erfasst wurde, die sich im wesentlichen auf den Raum um den Neusiedlersee und das Wiener Becken beschränkte. Die politischen Bestrebungen von Khagan Baian und seinen Nachfolgern richteten sich nach Süden, wo sie 582 nach langer Belagerung die Stadt Sirmium eroberten. Von da an begannen häufige Kriegszüge in die Balkanprovinzen, denen im Lauf der Jahre die meisten Limeskastelle und später Städte des Binnenlandes zum Opfer fielen. Wie die Hunnen hatten sie nicht die Absicht, römisches Gebiet dauerhaft zu besetzen. Sie plünderten, verschleppten die Bewohner, um sie im eigenen Machtbereich anzusiedeln oder gegen Lösegeld wieder freizulassen, und ließen sich Friedensverträge für hohe Jahrgelder abkaufen. Die Awarenangriffe gipfelten 626 in einer Belagerung von Konstantinopel gemeinsam mit den Persern, die aber nach etwas über einer Woche scheiterte. Danach endete die expansive Phase des Awarenreiches. Anders als die Hunnen und später die Ungarn, griffen die Awaren ihre westlichen Nachbarn nur in den Grenzgebieten an, zum Beispiel zweimal die Langobarden in Friaul. Ein Marsch des Awarenheeres donauaufwärts