Geschichte Österreichs. Walter Pohl L.
(oft noch klar als Hinterlassenschaft von römischen Zuwanderern identifizierbar), blieben viele regionale Besonderheiten erhalten. Dazu gehören etwa Kultstätten und inschriftliche Nennungen lokaler und überregionaler keltischer Gottheiten (wie Grannus oder Teutates) oder die norisch-pannonische Frauentracht, bei der vor allem die markanten Kopfbedeckungen der Frauen hervorstechen. Was üblicherweise »Romanisierung« genannt wird, war ein komplexer Akkulturationsprozess, dessen Erfolg gerade darauf beruhte, dass die Römer flexibel fremde Traditionen integrieren konnten. Die römische Religion etwa erlaubte es, fremde Gottheiten oder mythische Gestalten mit solchen des römischen Pantheons oder der klassischen Mythologie zu identifizieren (etwa Isis Noreia, Mars Latobius oder Iuppiter Arubianus). In dieser Form konnte dann eine lebendige provinziale Mischkultur entstehen, so dass etwa Frauen in norischer Tracht auf Epitaphien römischer Machart abgebildet sind. Zuwanderer kamen nicht nur aus dem Imperium, auch »Barbaren« von jenseits der Grenzen wurden von Anfang an auf Reichsboden angesiedelt. So war etwa der Westteil Pannoniens südlich der Donau und östlich des Neusiedler Sees zunächst dünn besiedelt; hier wurde die Gefolgschaft des vertriebenen Quadenkönigs Vannius angesiedelt.
Die Beziehungen zu Roms nördlichen Nachbarn waren zunächst im wesentlichen friedlich. Nur durch Truppenentsendung war Pannonien von den Dakerkriegen betroffen, die bis zur Unterwerfung der Daker durch Trajan immer wieder ausbrachen. Näher lagen seit der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. die Siedlungen der sarmatischen Jazygen im Theißgebiet, die aus den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres kamen und gegen die unter anderem Kaiser Domitian zu kämpfen hatte. Die Markomannen, die vom Weinviertel bis nach Mähren und Böhmen hinein siedelten, und die Quaden in der heutigen Westslowakei standen meistens in einem Klientelverhältnis zu Rom. Wald- und Mühlviertel waren kaum besiedelt. In der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts erreichten die Machtstellung und Prosperität des Imperiums ihren Höhepunkt, und das bedeutete auch für Noricum und seine Nachbargebiete eine friedliche Zeit. Die Urbanisierung der Provinzen wurde u. a. durch die Gründung der Municipien Ovilava/Wels und Aelium Cetium / St. Pölten verstärkt, die vielleicht anlässlich eines Besuchs von Kaiser Hadrian in Raetien und Noricum im Jahr 122 erfolgte. In Vindobona zog 113 oder bald darauf die Legio X Gemina ein. Unter Trajan wurde offenbar der Umbau des Lagers Carnuntum in Stein abgeschlossen, statt der 15. Legion wurde hier nun die Legio XIIII Gemina heimisch. Damals wurde die Stadt nach der Teilung Pannoniens Residenz für den Statthalter Oberpannoniens. Die Zivilstadt von Carnuntum dehnte sich rasch aus. Auch die ländliche Besiedlung intensivierte sich; mehrere villae rusticae, Landgüter mit gehobener Ausstattung, aus dem 2. Jahrhundert wurden archäologisch erschlossen, etwa in Altheim im Innviertel.
Im letzten Drittel des 2. Jahrhunderts wurde der Aufbau der römischen Infrastruktur durch die Markomannenkriege unterbrochen. Sie waren vor allem das Resultat von Migrationen und Machtverschiebungen in der Germania nördlich der Karpaten. Am ersten Angriff auf Oberpannonien im Jahr 166 waren etwa Langobarden von der unteren Elbe beteiligt; er konnte bald abgewehrt werden. 169 griff eine viel größere Streitmacht an, in der die benachbarten Markomannen, Quaden und Jazygen wohl am zahlreichsten waren; sie drang bis nach Oberitalien vor, während andere Gruppen in Pannonien und Noricum plünderten. Archäologische Hinweise auf Zerstörungen, die in diese Zeit datiert werden könnten, gibt es etwa aus Iuvavum, Aelium Cetium und Flavia Solva. Als die Feinde vertrieben waren, setzte Kaiser Marc Aurel 172 von Carnuntum aus zum Gegenschlag an; dazu wurden mehrere Donaubrücken errichtet. Das war jener Feldzug, von dem das »Regenwunder« berichtet wird – ein plötzlicher Regenguss, der den bedrängten Römern in kritischer Lage zum Sieg verhalf. Der Feldzug, der zur Unterwerfung der Quaden führte, wurde auf der Marc-Aurel-Säule in Rom ausführlich propagandistisch stilisiert. Weitere römische Feldzüge, aber auch Plünderungszüge der Barbaren folgten. Vorposten nördlich der Donau wurden eingerichtet, etwa in Mušov in Südmähren, wo ein reiches Grab eines wahrscheinlich verbündeten Germanenfürsten gefunden wurde. Gegen Ende der 170er Jahre waren bereits weite Teile des Markomannen- und Quadenlandes besetzt. Als Marc Aurel 180 starb (kaum wie früher oft angenommen in Vindobona), verzichtete sein Sohn Commodus darauf, neue Provinzen zu errichten. Die Kriege führten aber zu einer verstärkten Militarisierung der Donaugrenze zwischen Raetien und Pannonien. Im neu errichteten Lager Lauriacum an der Ennsmündung wurde die Legio II Italica stationiert. Überall entlang des Donaulimes wurden nun neue Wachttürme und Befestigungsanlagen errichtet.
Im frühen 3. Jahrhundert, unter den Kaisern der severischen Dynastie, kam es nicht zuletzt durch weitere Investitionen in die Armee und in die Grenzverteidigung zu steigender Prosperität an der Donaugrenze und entlang der transalpinen Straßenverbindungen. Carnuntum gewann weiter an Bedeutung; 193 wurde hier Septimius Severus zum Kaiser ausgerufen, und hier feierte er auch sein zehnjähriges Regierungsjubiläum. Die Zivilsiedlungen der nunmehr drei Legionslager an der österreichischen Donau – Carnuntum, Vindobona und Lauriacum – wuchsen. Freilich sollte der Romanisierungsgrad im Inneren der Provinzen nicht überschätzt werden; der Historiker Cassius Dio, der aus dem Osten kam und auch einmal Statthalter in Pannonien war, beschreibt dessen Bewohner im Kontrast zu den Mittelmeerländern als elende Barbaren, die »nichts haben, wofür es sich zu leben lohnt« (Römische Geschichte 49.36). Das mittlere Drittel des 3. Jahrhunderts war dann im ganzen Reich von politischer Instabilität gekennzeichnet; die Kaiser wechselten rasch, Usurpationen und Bürgerkriege behinderten eine konsequente Verteidigung, und Barbarenangriffe betrafen zunehmend auch grenzferne Gebiete. Goten zogen bis in die Ägäis, Alemannen und Franken griffen am Rhein an, Dakien und das rechtsrheinische Gebiet zwischen Main und Bodensee mussten aufgegeben werden. Der norische Raum wurde von den Kämpfen relativ spät und offenbar weniger hart betroffen; erst ab 270, als Rom anderswo seine Kontrolle bereits wiederherstellte, scheinen Alemannen und andere auch nach Noricum ausgegriffen zu haben. Freilich fehlen vielleicht für manche Einfälle auch nur die Nachrichten; etwa hat erst eine in den 1990er Jahren bekannt gewordene Inschrift aus der Gegend von Augsburg einen Plünderungszug von Juthungen bezeugt, die auf dem Rückzug mit zahlreichen Gefangenen vom raetischen Statthalter besiegt wurden. Schon damals wurden manche Siedlungen im Alpenraum stärker befestigt oder auf Hügel verlegt (etwa Teurnia oder das an einer häufig benutzten Marschroute gelegene Brigantium/Bregenz), eine Tendenz, die sich im 4./5. Jahrhundert verstärken sollte.
Es war vor allem Kaiser Diocletian (reg. 284–305), der die Ursachen der inneren und äußeren Instabilität der vorangegangenen Jahrzehnte durch tiefgreifende Reformen zu beseitigen versuchte. Militarisierung, Zentralisierung, erhöhter Steuerdruck und insgesamt unvermitteltere Machtausübung kennzeichnen das spätantike Imperium. Früher hat man die Epoche vom 3. bis zum 6. Jahrhundert oder darüber hinaus insgesamt als Zeit des Niedergangs und des kulturellen Verfalls betrachtet. Nicht zuletzt dank der bahnbrechenden Arbeiten von Peter Brown haben wir heute ein differenzierteres Bild von einer Epoche, die von neuen christlichen Ausdrucksformen und intensiven Auseinandersetzungen um den richtigen Glauben, von ehrgeizigen Reformbestrebungen und Rechtskodifikationen, von vielfältigem Schrifttum und einem eigenständigen Stil in Kunst und Architektur gekennzeichnet ist. In vielen Provinzen sind die Spuren dieser Zeit deutlicher als die der frühen Kaiserzeit. Römische Provinzialkultur, in jeweils spezifischer Ausprägung, erfasste nun recht weite Kreise der Bevölkerung. Politische Stabilität und äußerer Frieden waren dennoch auf Dauer nicht wiederherzustellen, und die Provinzen des österreichischen Raumes waren zunehmend davon betroffen.
Die strategische Bedeutung des Raumes war gegenüber der frühen Kaiserzeit gewachsen. Solange die römische Militärorganisation am Limes funktionierte, bedeuteten zunehmende Ausgaben für die Grenzverteidigung auch Investitionen für den Donauraum. Dabei diente der Limes nicht nur, wie jüngere Forschungen ergeben haben, der Abschreckung und Abwehr der Barbaren. An der Donau wie am Rhein verliefen auch wichtige militärische und wirtschaftliche Verbindungslinien zwischen Gallien und dem Osten; Barbaren konnten innerhalb der Grenzen angesiedelt und unter militärischer Kontrolle integriert werden; die Prosperität und kulturelle Ausstrahlung des Limesgebietes demonstrierte nach innen wie außen die Überlegenheit der römischen Ordnung; und die Kaiser, die durch Barbarensiege ihre Stellung legitimieren mussten, fanden hier eine Bühne für ihre Selbstdarstellung.
Diocletian veränderte die Provinzeinteilung, vor allem durch Teilung größerer Einheiten, was auch den Ostalpenraum betraf. Noricum Ripense (Ufernoricum) war durch den Alpenhauptkamm von Noricum Mediterraneum (Binnennoricum) geschieden; die Grenzverteidigung